Aus zwei militärischen Kommandostellen am Niederrhein heraus wird die Überwachung von Teilen des Nato-Luftraums koordiniert. Das Ziel: Einen überraschenden Angriff verhindern und den potenziellen Gegner abschrecken
Keine lauten Jets, keine Start- und Landebahnen, nur ein aufgebockter historischer Starfighter am Eingang – die Erwartungen, die Besucher an einen Luftwaffenstützpunkt stellen könnten, erfüllt die Von-Seydlitz-Kaserne in Kalkar auf den ersten Blick eher nicht. Dabei passiert hier Entscheidendes für die Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik. Die Daten aller Flugbewegungen laufen an diesem Standort zusammen. In Kalkar hat das Zentrum Air Component Command (ACC) seinen Sitz. Das 14.000-Einwohner-Städtchen im tiefen Westen ist vernetzt mit allen Luftwaffenstützpunkten in Deutschland. Hier sitzt sozusagen das Gehirn der Luftwaffe und verarbeitet alle relevanten Informationen. Was immer am Himmel geschieht, vom Niederrhein aus kann es nicht nur beobachtet werden. Sondern es können hier gegebenenfalls auch Gegenmaßnahmen geplant, koordiniert und überwacht werden.
„Die Bedrohung der Nato ist real“, machte kürzlich Nils Hilmer (SPD), Staatssekretär im Verteidigungsministerium, bei einem Besuch des Standorts deutlich. „Die Rekonstituierung der russischen Streitkräfte läuft auf Hochtouren.“ Gemeinsam mit dem Staatssekretär war Generalleutnant Ingo Gerhartz, der Inspekteur der Luftwaffe, nach Kalkar gekommen. Ihr Besuch unterstrich die Bedeutung des ACC und den Beitrag, den der Standort bei der von Bundeskanzler Olaf Scholz verkündeten „Zeitenwende“ leistet. Und die hat laut Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) das Ziel „Kriegsfähigkeit“. Gerhartz umschrieb es diplomatischer als „Kaltstartfähigkeit“. Die Luftwaffe soll zu jedem Zeitpunkt auf jede Herausforderung reagieren können.
Hilmer erklärte, warum diese Kaltstartfähigkeit überlebenswichtig ist: Russland habe längst auf Kriegswirtschaft umgestellt. Pro Jahr liefen dort mehr als 1000 Kampfpanzer vom Band. „Wir müssen davon ausgehen, dass die russischen Streitkräfte bis Ende des Jahrzehnts in der Lage sind, Nato-Territorium anzugreifen“, sagte der Staatssekretär. Generalleutnant Thorsten Poschwatta, der Leiter des ACC, brachte auf den Punkt, worauf es für die Nato angesichts dieser Entwicklung ankommt: „Abschreckung bedeutet nicht weniger, als seinem Gegenüber klarzumachen, dass ein Angriff keine Aussicht auf Erfolg hat beziehungsweise mit für ihn inakzeptablen Kosten verbunden ist. Dazu werden wir hier am Niederrhein künftig einen noch größeren Beitrag leisten.“ Man müsse für die Zukunft gerüstet sein.
Wie ein künftiger Konflikt aussehen könnte, erklärten Offiziere anschließend anhand eines fiktiven, aber realistischen Szenarios: Russische Truppen haben sich nach einem Manöver an den Grenzen der baltischen Staaten und Polens nicht wieder in ihre Kasernen zurückgezogen. Im Gegenteil: Sie erhalten neues Material und werden verstärkt. Die Nato fürchtet entweder einen Angriff auf die baltischen Staaten oder auf die Suwalki-Lücke, das Gebiet liegt im Dreiländereck Litauen-Polen-Belarus. Die russische Exklave Kaliningrad, das frühere Ostpreußen, ist nur etwa 65 Kilometer Luftlinie von Moskaus Satellitenstaat Belarus entfernt. Würde Russlands Armee hier durchbrechen, würden die baltischen Staaten von Polen und damit vom Nato-Gebiet auf dem Landweg getrennt.
In Kalkar werden Varianten für Abschreckungsmaßnahmen geplant, die man der Politik als Reaktion im Ernstfall vorschlagen kann. Ziel ist: Russland soll von einem Angriff auf Nato-Gebiet abgehalten werden. Um zwei Szenarien geht es, sie heißen in dem Planspiel „Langer Atem“ und „Schwert und Schild“. Sehr defensiv ausgerichtet ist „Langer Atem“. Die Luftwaffe würde zunächst mehr Flugzeuge als üblich aufsteigen lassen, die Zahl der Patrouillenflüge in Deutschland würde sich also erhöhen. Die Luftwaffe würde aber das Bundesgebiet nicht verlassen und damit Russland vor allem zunächst zeigen, dass sie die Bereitschaft erhöht hat. Sie könnte das mit einem überschaubaren Einsatz ihrer Ressourcen über einen längeren Zeitraum durchhalten.
Empfehlen würde die Luftwaffe im geschilderten Fall allerdings nach eigenem Bekunden „Schwert und Schild“, die härtere Variante. In Zusammenarbeit mit Polen, Dänemark und Schweden würde dabei die Luftwaffe ein Manöver durchführen, bei dem sie für den Fall eines konkreten Angriffs auf einen polnischen Truppenübungsplatz ihre Fähigkeiten demonstriert. „Show of Force“, die eigene Macht zeigen, ist denn auch das Ziel von „Schwert und Schild“. Es geht darum, dem Feind klarzumachen, dass man bereit für den Einsatz ist. In jedem Augenblick. Allerdings würde man Russland, bevor auch nur ein Flugzeug startet, informieren, dass man keinen Angriff plane. Und alles würde in einem deutlichen Abstand zur russischen Enklave Kaliningrad geschehen.
Das Manöver soll zeigen, dass man bereit ist, das Nato-Gebiet zu verteidigen. Zum Einsatz kämen Eurofighter als Bomber, die von anderen Flugzeugen dieser Art geschützt würden, auch von Standorten in NRW, etwa Nörvenich in der Eifel. Der Eurofighter ist ein Mehrzweckkampfflugzeug, das verschiedene Aufgaben übernehmen kann. Mit ECR, einer elektronischen Störtechnik, ausgestattete Tornados hätten derweil die Aufgabe, die gegnerische Luftabwehr zu stören. Drohnen und Awacs-Flugzeuge, die auf dem Nato-Flugplatz Geilenkirchen bei Aachen stationiert sind, würden zugleich die Aufklärung übernehmen, Tankflugzeuge dafür sorgen, dass keine Zwischenlandungen notwendig sind.
Zudem würden an der deutschen Ostgrenze zwei Patriot-Abwehrsysteme zeigen, dass auch der eigene Luftraum geschützt wird. In Kalkar würde man nicht nur die notwendigen Ressourcen zusammenstellen, sondern auch die Wetterverhältnisse auf der Erde und im Weltall überwachen.
Der Gefechtsstand, von dem aus militärische Aktionen dieser Art konkret umgesetzt würden, liegt im benachbarten Uedem. In der Kaserne in Kalkar befindet sich ein Ausweichgefechtsstand für den Fall, dass Uedem ausfällt. In den Gefechtsständen laufen Planung und Führung der Luftwaffe zusammen. Uedem, wo die operative Hauptarbeit geleistet wird, ist rund um die Uhr in Betrieb – ein Besuch aus Gründen der Geheimhaltung nicht möglich. Aber was dort gemacht wird, kann man in der Von-Seydlitz-Kaserne nachvollziehen.
Provokationen vermeiden
Wie die Militärs betonen, soll Russland abgeschreckt, aber nicht provoziert werden. Und Moskau soll seine Truppen zurückziehen können, ohne einen Gesichtsverlust zu erleiden. Die Szenarien könnten sie aus dem Stand der Politik vorlegen, betont Generalmajor Michael Hogrebe, Vizekommandant des AAC. Man sei rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr darauf vorbereitet. Die Luftwaffe sei in der Lage, schnell und flexibel zu handeln: „Wir könnten bei ‚Schwert und Schild‘ bewaffnet oder unbewaffnet fliegen“, sagte Hogrebe. Viele Varianten seien schnell umsetzbar.
Nun liegt es an der Politik, die Luftwaffe so auszustatten, dass sie auch bestehen könnte, wenn der Ernstfall eintreten sollte. Denn dann würde es nicht nur um ein Manöver zur Abschreckung gehen, sondern um Luftkämpfe, womöglich über viele Wochen und Monate.
Und darauf ist Deutschland bislang nicht vorbereitet. Allein für das defensive Konzept „Langer Atem“ benötigt die Luftwaffe 22 Eurofighter, um den deutschen Luftraum über mehrere Tage in Schichten für Russland sichtbar zu befliegen. 138 dieser Jets hat die Luftwaffe nach eigenen Angaben derzeit. Sollte Russland tatsächlich angreifen, ist das nach Einschätzung von Wehrexperten keine beeindruckende Zahl.
Auch bei der Luftwaffe ist – wie überall bei der Bundeswehr – vieles „auf Kante genäht“. Einstweilen arbeiten sie deshalb in Kalkar mit den Ressourcen, die zur Verfügung stehen. Und machen das Beste daraus.