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Schwedische Soldaten der Nato-Vorwärtskräfte in Lettland sind angetreten.

Vorn mit dabei: Schweden würde seine Soldaten zu einer Friedensmission abordnen; gleichermaßen Frankreich und Großbritannien. Andere Nato-Partner sind zurückhaltend, Pistorius agiert forsch. Und Putin warnt den Westen, daran keinen Gedanken zu verschwenden. © IMAGO / Johan Nilsson / TT

Viel Rhetorik ohne einheitlichen Plan: Die Ukraine erhält viel Lob, aber mit einer Friedenstruppe vor Putins Machtbereich könnte Europa sich übernehmen.

Kiew – „Ich habe den Eindruck, da zerbricht gerade etwas“, hat Kerstin Klein gesagt. Die Washington-Korrespondentin der Tagesschau berichtete von dem, in ihren Worten, „Schreiduell“ zwischen dem US-Präsidenten Donald Trump und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj – in dem beide Alpha-Männer lauthals ihre Abneigung gegeneinander bestätigt haben. Damit ist der Ukraine mutmaßlich ihr größter Gönner gegen die Gewalt durch Wladimir Putins Invasionstruppen von der Fahne gegangen; und die Europäer müssen spätestens jetzt Farbe bekennen.

„Kann Europa Russland in der Ukraine ohne US-Militär abschrecken?“, fragt denn auch völlig zurecht Jonathan Beale für die britische BBC. Auch die Financial Times (FT) registriert seismische Erschütterungen im europäischen Teil des Nato-Landes: „Heute ist klar geworden, dass die freie Welt einen neuen Anführer braucht. Es liegt an uns Europäern, diese Herausforderung anzunehmen“, zitiert die FT Kaja Kallas – die Estin ist Vizepräsidentin der Europäischen Kommission und hat in deren Namen auf ihrem X-Kanal (vormals Twitter) die Ukraine der uneingeschränkten Souveränität der EU versichert.

Eklat im Weißen Haus: Selenskyj von Trump gedemütigt: Jetzt müsste Europa für die Sicherheit der Ukraine bürgen

Was allerdings zunächst nur das Wahren des diplomatischen Konsens bedeutet. Alexandr Burilkov und Guntram B. Wolff sehen darüber hinaus wenig Substanzielles: Um einer russischen Aggression Herr zu werden, könnte Europa kurzfristig 300.000 zusätzliche Soldaten und eine Erhöhung der jährlichen Verteidigungsausgaben um mindestens 250 Milliarden Euro benötigen, behaupten die Autoren des Brüsseler Thinktanks Bruegel. Für sie zählen neben der Ist-Stärke der Kräfte und deren Ausrüstung die Erfahrungen, die die russischen Armee aktuell in der Ukraine sammelt. Und ebenso die gesellschaftliche Konditionierung Russlands, die sich ganz auf den militärischen Konflikt fokussiert und Leidensfähigkeit beweist.

„Keiner weiß genau, was die amerikanische Administration will, und es weiß auch niemand, wie man Russland dazu bringen kann, einer starken Friedenstruppe in der Ukraine zuzustimmen.“

Die Leidensfähigkeit, die den europäischen Ländern seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs offenbar verloren gegangen ist. Donald Trump warf Selenskyj vor, durch seinen unbeugsamen Willen den Dritten Weltkrieg zu riskieren, indem er Sicherheitsgarantien für sein Land forderte – eine öffentliche Demütigung des Ukrainers. Jetzt müsste Europa maßgeblich für die Sicherheit der Ukraine bürgen: Mit immer neuen Waffenlieferungen, mit Friedenstruppen oder mit beidem zusammen.

„Die Briten haben unglaubliche Soldaten, ein unglaubliches Militär und sie können auf sich selbst aufpassen“, hat Donald Trump gelobhudelt in Richtung des britischen Premier-Ministers Keir Starmer, wie die BBC mit Erstaunen notiert; vor allem vor dem Hintergrund der Geringschätzigkeit, die in der US-amerikanischen Generalität gegenüber der britischen Militärmacht herrschen soll, wie BBC-Autor Beale berichtet. Demnach gelte das Vereinigte Königreich mit seinen auf 70.000 Kräften geschrumpften Armee als machtpolitischer Winzling, der sich kaum zwischen geifernde russische Truppen und rachedürstende ukrainische Verteidiger stellen könnte.

Schlichter im Ukraine-Krieg: Auch französische oder deutsche Truppen würden kaum genug Autorität bieten

Auch französische oder deutsche Truppen würden kaum genug Autorität bieten, um einen Frieden wirklich sichern helfen zu können. „Europa wäre allein nicht in der Lage, eine Truppe von 100.000 bis 200.000 internationalen Soldaten bereitzustellen, die nach Ansicht von Selenskyj nötig wäre, um Russland von einem erneuten Angriff abzuhalten“, schreibt Beale. Und Donald Trump würde Truppen wahrscheinlich lediglich in die Ukraine schicken, um den Abtransport von eingehandelten Rohstoffen zu überwachen.

Deutschland hält sich ohnehin bedeckt – Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) tabuisierte das Eingreifen deutscher Soldaten als „ausgeschlossen“, wie er sagte; der wohl künftige Kanzler Friedrich Merz (CDU) will frühestens nach einem UN-Mandat losmarschieren, und der amtierende Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) ist zumindest rhetorisch bereits seit Januar gestiefelt: „Wir sind der größte Nato-Partner in Europa. Da liegt es ja auf der Hand, dass wir eine Rolle spielen werden, Verantwortung übernehmen müssen“, zitiert ihn der Tagesspiegel.

Letztendlich ist der Weg zu einer einheitlichen militärischen Abordnung Europas so lang wie nie zuvor zu einer „Friedensmission“ –wahrscheinlich auch weit länger als bis zu einem tragfähigen Frieden zwischen den Kriegsparteien. Das spielt weder eine Rolle, dass sich Schweden an einer Friedenstruppe beteiligen wollte, wie der Spiegel berichtet, noch dass Polen das bisher kategorisch ausgeschlossen hat. Denn offenbar hat vor allem Wladimir Putin keinen Bedarf, wie der Spiegel klarstellt: Russland habe mehrfach abgelehnt, Nato-Soldaten in der Ukraine zu dulden.

Russland alarmiert durch Friedenstruppen: „Direkte Bedrohung“ der russischen Souveränität

„Aus Sicht von Außenminister Sergej Lawrow würde Moskau dies als eine ,direkte Bedrohung‘ der russischen Souveränität betrachten, selbst wenn die Truppen dort unter einer anderen Flagge operieren würden“, schreibt das Nachrichtenmagazin. Tatsächlich hätten die Russen damit zugelassen, was sie mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg vor allem verhindern wollten: Nato-Truppen nicht nur vor ihrer Haustür, sondern direkt auf dem Territorium, das sie als das eigene begreifen. Die Nato hätte damit exakt die Bedrohung realisiert, vor der sich Russland nach eigener Definition schützen wollte.

Und was überhaupt sollten die europäischen Soldaten verteidigen?, fragt beispielsweise Samuel Charap. Laut Definition der Vereinten Nationen sollten Friedenstruppen „eine neutrale dritte Partei sein, die Streitigkeiten schlichten und als ehrlicher Makler auftreten kann“, kommentiert der Politikwissenschaftler in der Financial Times. Als „neutral“ wären die Nato-Partner trotz ihres blauen Helmes wohl kaum zu definieren. Für Russland stellten sie demgegenüber einen neutral uniformierter Nato-Brückenkopf in Armlänge zur russischen Machtsphäre dar.

„Ein zweites Modell für Bodentruppen ist eine Stolperdrahttruppe: Truppen, die eingesetzt werden, um potenzielle Aggressionen abzuschrecken, indem sie das Engagement der Staaten demonstrieren, die sie entsandt haben“, schreibt Chapra. Das ist exakt das, was Russland in dieser Mission sehen würde – und die Europäer müssten sich bewusst sein, dass sie damit Bereitschaft signalisierten, mit Russland in den Ring zu steigen. Möglicherweise haben die Europäer weder einen Plan, wie sie mit einer möglichen Reaktion Russlands in ihren jeweiligen Heimatländern umzugehen hätten, noch wie sie ihren Brückenkopf im Falle von Gefechten mit russischen Einheiten in der gebotenen Eile kampfkräftig verstärken könnten.

Nato-Idee: An Schlüsselstandorten – Städten, Häfen und Atomkraftwerken – für „Beruhigung“ sorgen

Mit der Idee der Friedenssicherungs-Truppe in der Ukraine könnte Europa wieder einmal dem Trugschluss aufsitzen davon auszugehen, dass alles friedlich bleibe. Andersherum wäre wohl eher zu klären, in welchen Szenarien eine multinationale Einheit gegenüber Russlands Truppen überhaupt militärische Autorität beweisen und sie von Waffengewalt abhalten könne. Denn mit dem ersten Schuss Russlands wäre sicher der Nato-Bündnisfall eingetreten, und die USA würden sich dann womöglich heraushalten; was Donald Trump auch schon signalisiert hat. Charap macht nochmals deutlich, zu dem Ukraine-Krieg habe hauptsächlich geführt, dass Russlands seit Jahrzehnten erpicht darauf gewesen sei, Nato-Truppen und -Infrastruktur aus der Ukraine fernzuhalten, wie er schreibt.

Panzer, Drohnen, Luftabwehr: Waffen für die Ukraine

Kampfflugzeug des Typs „Gripen“ aus Schweden

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Insofern erscheint es tatsächlich befremdlich, wenn die BBC die Gerüchte aus Nato-Kreisen kolportiert, eine Truppe von vielleicht 30.000 Mann würde sich darauf konzentrieren, „an Schlüsselstandorten – ukrainischen Städten, Häfen und Atomkraftwerken – für ,Beruhigung‘ zu sorgen.“ Selbst diese Idee würde für Russland wohl eher akuten Stress bedeuten. Unter diesen Umständen muss gefragt werden, was für ein Frieden das sein soll, wenn vier bis sechs Divisionen bewaffneter Europäer, also zwischen 12.000 und 30.000 Kräfte, diesen Frieden sichern müssten. Allein deshalb klingt das Vorhaben eher nach einer erzwungenen Feuerpause – in der jede Seite die Zeit nutzen würde, beim Wiederaufflackern der Kämpfe besser gerüstet zu sein als der Gegner.

Dazu zitiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z.) den deutschen Diplomaten Wolfgang Ischinger: „Keiner weiß genau, was die amerikanische Administration will, und es weiß auch niemand, wie man Russland dazu bringen kann, einer starken Friedenstruppe in der Ukraine zuzustimmen.“