lugabwehr hat heute wieder höchste Priorität. Der deutsche MBDA-Konzern hat Aufträge über 1000 Patriot-Lenkwaffen in den Büchern. Doch wie lange geht die Rüstungskooperation mit den USA noch?

Murad Sezer / X90138
Die Masse, die einmal eine Rakete innerhalb von drei Sekunden auf vierfache Schallgeschwindigkeit beschleunigt, sieht aus wie Kuchenteig. Die Schaufeln eines riesigen Rührgeräts fahren in einem noch gewaltigeren Bottich durch die klebrige, zähe Mischung aus acht bis zehn Chemikalien. Mehr als 20 Stunden geht das so, dann sind 2,2 Tonnen Feststofftreibstoff fertig.
Damit können zum Beispiel Meteor-Raketen angetrieben werden. Sie gehören zur Bewaffnung des Eurofighters, um gegnerische Kampfflugzeuge auf eine Distanz von bis zu 200 Kilometern auszuschalten. Das ist wichtig. Aber noch wichtiger dürfte der Treibstoff sein, der demnächst hier produziert wird. Es ist der Antrieb für die Lenkflugkörper vom Typ Patriot PAC-2, jene Raketen, die für die künftige deutsche und europäische Luftverteidigung von herausragender Bedeutung sind.
Der Mischer mit der explosiven Masse befindet sich in einem bunkerähnlichen Gebäude, umgeben von begrünten Erdwällen. Zutritt haben dort nur wenige, unter ihnen die zwei Techniker, die den Prozess der Treibstoffherstellung die meiste Zeit vor Bildschirmen in einem Steuerstand ausserhalb des Bunkers überwachen. Sie arbeiten für Bayern-Chemie, eine Firma mit gut 250 Mitarbeitern in Aschau am Inn, die dem Rüstungsunternehmen Matra BAe Dynamics Aérospatiale, kurz: MBDA, in Schrobenhausen gehört.
Feststoffantriebe können nur wenige Firmen herstellen
Ohne ein Unternehmen wie dieses könnten viele moderne Lenkflugkörper nicht fliegen und Weltraumraketen nicht starten. Die Bayern-Chemie Gesellschaft für flugchemische Antriebe nahe der Grenze zu Österreich ist eine von wenigen Firmen weltweit, die regelbare Feststoffantriebe produzieren können. Anders als bei Kerosin oder anderen Flüssigkraftstoffen können Flugkörper mit einem Feststoffantrieb jahrzehntelang gelagert werden und sind dennoch sofort einsatzfähig.
Bayern-Chemie und MBDA sind Unternehmen, die für das stehen, was sich gerade zu lösen scheint. Es ist die enge Verzahnung zwischen Deutschland und den USA. Seit mehr als vier Jahrzehnten produziert der amerikanische Rüstungskonzern Raytheon das Flugabwehrsystem Patriot. Nahezu alle europäischen Nato-Staaten nutzen es zur Verteidigung ihres Luftraums, auch die Bundeswehr.
Allerdings haben Deutschlands Streitkräfte die Flugabwehr drei Jahrzehnte lang vernachlässigt. Von 24 Patriot-Staffeln im Jahr 2006 sind heute noch 10 übrig. Die teuren Lenkflugkörper wurden kaum noch beschafft. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine hat sich das geändert. Die Regierung in Berlin startete eine Initiative für ein umfassendes Luftverteidigungssystem in Europa (European Sky Shield Initiative).
Patriot als Teil des europäischen Luftschirms
Patriot spielt dabei eine wichtige Rolle. Es soll gegnerische Flugzeuge, Raketen und Marschflugkörper auf mittlere Distanz abwehren. Dabei handelt es sich um Entfernungen von bis zu 70 Kilometern bei einer maximalen Höhe von etwa 24 Kilometern. Von Patriot abgesehen besteht der «Sky Shield» aus massgeblich zwei weiteren Abfangsystemen.
Da ist zum einen das israelische Arrow-System für grosse Reichweiten (bis zu 2400 Kilometer in maximal 100 Kilometern Höhe). Erste Teile sollen dieses Jahr in Deutschland aufgebaut werden. Zum anderen gibt es das deutsche Iris-T-System (Reichweite zirka 12 Kilometer bei 6 Kilometern Höhe) für kurze Reichweiten. Vergangenes Jahr wurde das erste Iris-T an die Bundeswehr ausgeliefert.
Mit dem Antrieb der Patriot-Lenkflugkörper kennen sich die Ingenieure bei Bayern-Chemie bereits aus. Zwischen 1987 und 1996 produzierte das Unternehmen im Auftrag von Raytheon schon einmal die Feststoffmotoren für die von Deutschland bestellten Raketen. Schon damals gab Raytheon vor, wie der Antrieb beschaffen sein muss. Auch heute hat sich Bayern-Chemie eins zu eins an die Baupläne der Amerikaner zu halten.
Knappe Produktionskapazitäten in den USA
Dennoch ist der Patriot-Auftrag für das Unternehmen aus Aschau am Inn etwas Besonderes. Die Produktion des Patriot-Systems findet in den USA zwar bei Raytheon statt. Aufgrund der besonderen Rolle der Flugabwehr für die nationale Sicherheit hat aber die amerikanische Regierung die Hand auf der Produktion der Lenkflugkörper. «Rocket science» ist hier Staatsangelegenheit.
Doch die veränderte Lage in der Welt hat dazu geführt, dass der Flugabwehr nicht nur in Europa, sondern auch in den USA wieder eine bedeutende Rolle zukommt. Die Amerikaner modernisieren ihre Patriot-Systeme und beschaffen eine Vielzahl neuer Lenkflugkörper. Ihre Produktion ist auf lange Sicht für den Eigenbedarf ausgelastet. Daher haben sie sich vor gut anderthalb Jahren entschieden, nicht nur den Antrieb in Deutschland produzieren zu lassen, sondern auch die Patriot-Lenkflugkörper vom Typ PAC-2 dort zu montieren.
In Schrobenhausen nördlich von München, dem Hauptstandort von MBDA in Deutschland, wird dafür in den kommenden Monaten eine neue Montagehalle gebaut. Das Unternehmen arbeitet schon seit Jahrzehnten in einem Joint Venture mit Raytheon zusammen. Seitdem die Bundeswehr mit Patriot ausgerüstet wurde, ist MBDA für Modernisierung, Wartung und Reparatur der Systeme zuständig. An diese Kooperation knüpften die beiden Unternehmen an, als der deutsche Kanzler Olaf Scholz die Sky-Shield-Initiative gründete.
500 neue Lenkflugkörper für Deutschland
Eine Folge dieser Initiative war die Bestellung von 500 Lenkflugkörpern PAC-2 durch Deutschland im Januar 2024. Der Haushaltsausschuss des Bundestags hatte zuvor gut 3 Milliarden Euro für die Beschaffung bewilligt. Die Auslieferung soll zwischen 2027 und 2033 erfolgen.
Es ist diese grosse Menge an Lenkflugkörpern, die Raytheon veranlasste, erstmals einer Herstellung ausserhalb der USA zuzustimmen. Inzwischen haben zahlreiche europäische Staaten weitere 500 Lenkflugkörper in Auftrag gegeben, die ebenfalls in Aschau am Inn und in Schrobenhausen produziert werden sollen. Mit Blick auf die weiter wachsende Bedeutung einer wirksamen Luftverteidigung könnte es sein, dass es nicht bei diesen 1000 in Deutschland produzierten Lenkflugkörpern bleibt.
Amerika produziert weiter das Herzstück
Allerdings ist die Arbeitsteilung bei der Produktion dieser für die amerikanische und die europäische Luftverteidigung so wichtigen Waffen dann doch nicht so tiefgehend, wie es scheinen mag. Der Suchkopf für die Zielerfassung, der Rechner und der Sprengkopf kommen nach wie vor aus den USA. Sie sind das «intelligente Herzstück» des Flugkörpers. In Schrobenhausen wird der Gefechtskopf aus Amerika mit dem Motor aus Deutschland verbunden.
Das Patriot-System verschiesst zwei verschiedene Lenkflugkörper. Der Typ PAC-3 funktioniert nach dem Hit-to-kill-Prinzip und eignet sich vor allem zur Bekämpfung ballistischer Raketen. Dabei zerstört der Lenkflugkörper eine gegnerische Rakete, indem er sie direkt trifft. Der Typ PAC-2 arbeitet mit einem Gefechtskopf, der in direkter Zielnähe explodiert und einen Splitterregen erzeugt. Drohnen, Kampfflugzeuge, Marschflugkörper oder taktische ballistische Raketen werden auf diese Weise zersiebt und zum Absturz gebracht.
Die neueste Flugkörperversion zur Bekämpfung ballistischer Raketen produzieren nach wie vor ausschliesslich die USA. Länder wie etwa die Schweiz, die beide Flugkörpertypen nutzen, müssen ihre PAC-3 direkt dort beschaffen.
Wenn Trump die Produktionserlaubnis entzieht
Patriot ist ein Vorzeigeprojekt transatlantischer Rüstungskooperation. Mit dem Entscheid, eine Produktionsstrecke in Deutschland aufzubauen, soll sich die Zahl der fabrizierten Lenkflugkörper ab dem nächsten Jahr verdoppeln. Unklar ist, was geschähe, wenn der amerikanische Präsident Donald Trump den Europäern noch die Produktionserlaubnis entzöge. Er könnte dafür etwa Interessen der nationalen Sicherheit geltend machen. Bei MBDA heisst es, dies sei aufgrund des Joint Venture mit Raytheon und der Auftragsvergabe durch die Rüstungsagentur der Nato nicht ohne weiteres möglich.
Dennoch strebt das Unternehmen nach grösserer technologischer Unabhängigkeit. Die Patriot-Technologie kommt aus den USA. Daran lässt sich für MBDA nichts ändern. Doch die Firma hat in den vergangenen Jahren eigene Raketen wie Meteor und Marschflugkörper wie Taurus entwickelt. Beide gelten in ihren jeweiligen Kategorien als State of the Art.
Darauf will MBDA nun bei einem der grössten Projekte der kommenden Jahrzehnte aufbauen. Es geht um die Konstruktion eines europäischen Hyperschallflugkörpers. Eine solche Waffe bewegt sich mit zehnfacher Schallgeschwindigkeit und mehr und ist mit heutiger Technologie kaum abzufangen. Die Entwicklung und Produktion des Antriebs liegt unter anderem bei Bayern-Chemie.
Hyperschallwaffen aus Deutschland?
Allerdings drängt die Zeit. Gerade hat ein namhaftes deutsches Expertenteam um den Ökonomen Moritz Schularick und Tom Enders, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, in einem Strategiepapier für die europäische Sicherheitspolitik eine schnelle Entwicklung von Hyperschallwaffen gefordert. Doch ein technologisch hoch anspruchsvolles Programm wie dieses braucht mindestens zehn Jahre oder mehr.
Auch die USA arbeiten an solchen Waffen. Doch in Berlin schwindet das Vertrauen darauf, dass Amerika noch verlässlich an der Seite der Europäer steht. Die Rüstungsindustrie auf dem alten Kontinent muss strategische Systeme wie dieses selbst produzieren können. Das forderten in letzter Zeit immer wieder europäische Regierungschefs.
Amerika und Europa haben bisher oft gemeinsam agiert, weil es beiden genutzt hat. Doch was, wenn es bei einer nachhaltigen Entfremdung solche transatlantischen Projekte wie Patriot nicht mehr gibt? Anzeichen gibt es bis jetzt keine. Doch allein schon der Umstand, dass das Undenkbare plötzlich denkbar ist, sollte eine Warnung sein. Viel Zeit, eine autonome Rüstungsindustrie aufzubauen, bleibt nicht.