Wiktor Juschtschenko, der ehemalige Präsident der Ukraine, ist diese Woche zusammen mit seiner Frau Kateryna zu Besuch in Luxemburg. Weltweite Aufmerksamkeit erregte der Politiker und Finanzfachmann mit der dramatischen Geschichte im Jahr 2004, als er nach einem Vergiftungsanschlag, der sein Gesicht entstellte und seine Organe schwer schädigte, nur mit viel Glück überlebte. In Luxemburg unterstützt das Ehepaar nun die am Dienstag stattfindende und unter der Schirmherrschaft von Erbgroßherzogin Stéphanie stehende LUkraine’s Charity Gala. Die Veranstaltung sammelt Spenden für ein Fachzentrum, das nach komplexen Amputationen umfassende Rehabilitationsmaßnahmen bietet.

Tageblatt: Als Sie Präsident waren, gab es bereits den Konflikt „Demokratie gegen Autokratie“. War damals schon absehbar, was 2022 passiert ist?

Wiktor Juschtschenko: Da brauchte es keine großen Prophezeiungen. Es gibt kaum eine Generation von Ukrainern, die keinen Krieg mit Russland erlebt hat. Sie haben uns immer wieder besetzt. Von den letzten 33 Jahren Unabhängigkeit waren wir zwölf im Krieg mit Russland. Während Jahrhunderten wurden Ukrainer in entlegene Regionen verschleppt. Es war nicht die Frage nach dem „Ob“, sondern nur die Frage nach dem „Wann“.

In zwei Sätzen: Was braucht die Ukraine, um zu gewinnen?

Waffen. Alle möglichen Waffen, und das sofort. Dann ein Ölpreis von unter 50 Dollar pro Barrel und eine neue Beziehung mit China. Russland ist eine chinesische Kolonie. China ist das einzige Land, vor dem Putin Angst hat.

Europa versucht immer wieder, auf Putins „Gefühle“ Rücksicht zu nehmen, um zu vermeiden, zu viel Schaden anzurichten. Ergibt das Sinn?

Russland wird nicht von einer Junta beherrscht, sondern von einem Diktator. Er entscheidet allein, wohin seine Armee marschiert. Ein richtiges Parlament hat er nicht. Er ist seit 25 Jahren an der Macht, obwohl die Verfassung ein Maximum von zwei Mandaten vorschreibt. Es gibt keine Opposition: Falls doch, dann werden sie getötet. Einige meiner Freunde wurden so umgebracht. Wer nur im Gefängnis landet, hat Glück gehabt. Ich würde sagen: Macht euch keine Gedanken darüber, was Putin denkt. Jede verrückte Idee kann in seinen Kopf kommen. Es ist eine andere Realität. Wir müssen uns dem stellen. Er ist der Hitler des 21. Jahrhunderts. Moral oder Logik brauchen wir keine zu erwarten. Wir sollten solidarisch handeln. Das ist es, was uns unterscheidet von der Gleichgültigkeit der russischen Massen. (…) Der Diktator ist eine Gefahr für die ganze Welt. Die Polen, Esten, Litauer und Finnen wissen es. Putin will seine Kolonien zurück. Er will die Zeit zurückdrehen. Die Ukraine ist nur sein erstes Hindernis. Dazu braucht es keinen Wahrsager. (…) Wenn 54 Staaten, die die Ukraine unterstützen, gegen ein armes, böses Russland verlieren, dann werden wir akzeptieren müssen, dass die Welt von Kriminellen beherrscht wird.

China ist das einzige Land, vor dem Putin Angst hat

Das hört sich alles ziemlich pessimistisch an …

So wollte ich nicht verstanden werden. Ich bin ein Optimist. Die besten Demokratien stehen an der Seite der Ukraine. Unsere Nation steht so eng zusammen wie noch nie. Wir sind der beste Schutz für Europa. Trotz aller Zerstörung haben wir Putin nicht erlaubt, die Ukraine in drei Tagen zu erobern. Wir haben 50 Prozent des besetzten Territoriums wieder befreit. Die Geschichte sehe ich als Mittel, um Lehren daraus zu ziehen. In den letzten zwölf Jahren hat sich Europa radikal verändert. Heute versteht die EU ihre Mission anders und wird zu einem Ort der Stärke.

Im Gespräch mit Luxemburger Journalisten gab sich Wiktor Juschtschenko beeindruckt davon, wie sich Europa in den letzten Jahren verändert hat. Zu der Zeit, als er Präsident der Ukraine war, habe Europa viele Deals mit Russland gemacht. Der Besetzung der Krim habe es „stumm zugestimmt“. Für Angela Merkel und Nicolas Sarkozy seien die persönlichen Beziehungen zu Putin wichtiger gewesen als die mit Brüssel. „Europas Außenpolitik sah damals für mich sehr schwach und nicht unabhängig aus.“
Kurz nachdem 2008 Georgien und die Ukraine nicht in die NATO aufgenommen wurden, wurde Nord Stream 1 unterzeichnet, dann Georgien angegriffen, sagt er. Nach der Unterzeichnung 2014 von Nord Stream wurde dann die Ukraine angegriffen. „Keine Parallelen zu sehen?“
„In dieses Russland hat Europa bis vor kurzem eine Milliarde Euro pro Tag bezahlt“, so Juschtschenko weiter. „Ich hoffe, Europa wird nicht die Fehler von 1938 wiederholen. (…) Frieden kommt erst nach gewissen Aktionen: etwa nach einem Sieg, oder nach einer Kapitulation. Wählt selber, welchen Frieden ihr wollt. (…) Warum sollten wir Putin etwas geben? Stellt euch vor: Ein betrunkener Einbrecher kommt in euer Haus. Bietet ihr ihm dann ein Zimmer an? (…) Für einen Kompromiss gibt es nur wenig Raum: Sie wollen uns töten. Wir wollen aber leben.“
Doch so langsam werde verstanden, welche Gefahr von Putin kommt, so der Politiker. „Und es wird entsprechend reagiert.“ Nachdem Olaf Scholz 2022 nur Helme und Erste-Hilfe-Sets an die Ukraine liefern wollte, und Emmanuel Macron Stunden mit Putin telefonierte, sei heute alles anders. „2014 gab es nur schwache Sanktionen. Heute mehr als 22.000. Mehr als jemals zuvor gegen ein Land. (…) Mit den USA redet Europa heute wie ein Block, nicht wie einzelne Länder.“

„Wir sollten solidarisch handeln. Das ist es, was uns unterscheidet von der Gleichgültigkeit der russischen Massen“„Wir sollten solidarisch handeln. Das ist es, was uns unterscheidet von der Gleichgültigkeit der russischen Massen“ Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

Ist es möglich, diesen Krieg mit wirtschaftlichen Mitteln zu gewinnen?

Der Druck auf Russland, einschließlich der Sanktionspolitik, ist seit Beginn der groß angelegten russischen Invasion ein fester Bestandteil der Politik der Verbündeten der Ukraine. Neben den wirtschaftlichen Auswirkungen haben die Sanktionen auch einen breiteren politischen Einfluss, indem sie das Ansehen Russlands als Staat, seiner Branchen und großen Unternehmen sowie von Personen aus der Wirtschaft untergraben. Das Potenzial dieses Drucks ist auch im vierten Kriegsjahr noch nicht ausgeschöpft. Das bedeutet, dass es jetzt an der Zeit ist, die Sanktionen zu verschärfen. Es gibt viele Hebel, darunter auch wirtschaftliche, die noch nicht eingesetzt wurden. Klar verfügt Russland über eine hohe Widerstandsfähigkeit und seine Wirtschaft bewegt sich nur sehr langsam in Richtung der gewünschten Krise, was die Ukraine sehr viel kostet. Dies ist jedoch kein Signal dafür, dass die Sanktionen keine Wirkung zeigen oder dass sie Gegenstand von Verhandlungen über die Beendigung des Krieges werden sollten. Es liegt im Interesse Europas, die Sanktionen auch nach dem Abzug Russlands aus der Ukraine so lange wie möglich aufrechtzuerhalten.

Putin will seine Kolonien zurück. Er will die Zeit zurückdrehen.

Steigende Preise und Inflationsraten spielen eine wichtige Rolle. In welchem Land ist die Lage derzeit schlechter, in Russland oder in der Ukraine?

Es ist nicht korrekt, die wirtschaftliche Lage in beiden Ländern zu vergleichen, da es sich um zwei völlig unterschiedliche Wirtschaftsmodelle handelt. Ein Grund dafür ist auch die Verfügbarkeit realer Daten. Die russischen Zahlen, die öffentlich zugänglich sind, spiegeln möglicherweise nicht die tatsächlichen Prozesse wider. Es handelt sich um traditionelle russische Praktiken der Verschleierung von Statistiken, der Manipulation von Daten und der Propaganda der eigenen Erfolge.

Was müsste geschehen, damit sich die öffentliche Meinung in Russland ändert?

Die öffentliche Meinung in Russland hat keinen wirklichen Einfluss auf die Prozesse im Land – es handelt sich nicht um eine Demokratie. Das weitere Schicksal Russlands wird nicht von der russischen Bevölkerung oder den Wählern bestimmt werden. In den 25 Jahren der Autokratie, bewaffnet mit einer mächtigen Propaganda und Einschränkungen der Menschenrechte, haben die Bürger jeglichen Einfluss auf politische Entscheidungen verloren. (…) Schauen Sie sich die öffentliche Meinung in Russland im vierten Kriegsjahr an. Beispielsweise wächst die gesellschaftliche Unterstützung für einen Atomkrieg, ohne dass man sich der Folgen wirklich bewusst ist. Hinzu kommt religiöser Mystizismus über das Ende der Welt, wenn Russland nicht mehr existiert, und so weiter. All dies zeugt von einem völlig ungesunden psychologischen Zustand der russischen Gesellschaft.

Während des Gesprächs am Montagmorgen in Luxemburg gab es einen unerwarteten Moment. Sirenen heulten auf. Von einer Sekunde auf die andere erstarrten die Gesichter der ukrainischen Gäste. Fassungslosigkeit. Selbst nach der Erklärung, dass Luxemburg jeden ersten Montag im Monat einen Test des Sirenennetzes durchführt, vergingen lange Sekunden, bis der Schock überwunden war. „Hoffen wir, dass Sie die Sirenen nie brauchen werden“, bemerkte schlussendlich die Frau des ehemaligen Präsidenten, Kateryna Juschtschenko.

 „Wir sind historisch gesehen die besten Experten für die russische Besatzung, Kolonialisierung, Propaganda und den Aufbau von Repressionen“ „Wir sind historisch gesehen die besten Experten für die russische Besatzung, Kolonialisierung, Propaganda und den Aufbau von Repressionen“ Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

Tut Europa genug, um der Ukraine zu helfen – im Hinblick auf den Wirtschaftskrieg?

Europa wird sich der Bedeutung der Ukraine immer mehr bewusst. Dies zeigt sich auch an der Geschwindigkeit des europäischen Integrationsprozesses – die Tatsache, dass dieser gegenüber einem Land begonnen wurde, das mit einer umfassenden militärischen Aggression zu kämpfen hat, ist ein außerordentliches Signal für den Wert der Ukraine für Europa. Die Prozesse, die seit der Wahl von Präsident Trump stattfinden, festigen Europa noch mehr in seiner Unterstützung für die Ukraine – sowohl militärisch und sicherheitspolitisch als auch wirtschaftlich. Die Ukraine versteht Russland am besten – nicht nur aufgrund ihrer aktuellen Erfahrungen auf dem Schlachtfeld. Wir sind historisch gesehen die besten Experten für die russische Besatzung, Kolonialisierung, Propaganda und den Aufbau von Repressionen. Unsere jahrhundertelange Erfahrung des Überlebens an der gemeinsamen Grenze mit Russland muss in jedem europäischen Land studiert werden, um angemessene Strategien für die nationale Sicherheit und Informationssicherheit zu entwickeln. Deshalb blicke ich optimistisch auf die Veränderungen in der Haltung, den Ansätzen und der Politik Europas gegenüber der Ukraine. Ich glaube, dass wir gerade eine Gemeinschaft bilden, nach der wir Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte unserer Existenz gestrebt haben.

Der ukrainische Widerstand hat Zeit gewonnen. Aber mein Rat an die Europäer lautet, diese Zeit nicht zu verschwenden und sich darauf vorzubereiten, dass Russland weiter voranschreiten wird.

Waren die Europäer töricht, jahrelang Geschäfte mit Russland zu machen, während Putin sein Land auf den Krieg mit den Demokratien vorbereitete? 

Die Entwicklung dieser Beziehungen war weitgehend von einer ganz anderen Weltanschauung und einer anderen Vorstellung davon geprägt, wie Länder miteinander umgehen sollten. Die Welt der 1990er Jahre war dabei, sich demokratisch neu zu ordnen, feierte den Fall der Berliner Mauer und den Zusammenbruch der UdSSR. Von Russland wurde erwartet, dass es sich zu einer Demokratie entwickeln würde, und es gab auch gewisse Anzeichen dafür. Die Idee einer liberalen Welt, in der Zusammenarbeit, der freie Verkehr von Waren, Menschen, Kapital und Dienstleistungen für alle von Vorteil sind, prägte das Weltbild mehrerer Generationen europäischer und amerikanischer Politiker. Dies führte zu einer Erweiterung der NATO und der Europäischen Union, wodurch Europa endlich mit beiden Lungen atmen konnte, wie Papst Johannes Paul II. es ausdrückte.

Aber …

Seit 2007 kam es in Russland zu rasanten Prozessen des Rückzugs der Demokratie. In seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz kritisierte Putin die unipolare Welt, die Politik der USA und der NATO gegenüber Russland. Es war die schärfste außenpolitische Rede des Kremlchefs seit einem halben Jahrhundert. (…) Die weiteren Versuche Russlands, Vertreter der deutschen und österreichischen politischen Elite sowie den ungarischen und slowakischen Staatschef für eine Zusammenarbeit zu gewinnen, sind bereits Instrumente, die zur Spaltung Europas eingesetzt werden. Naivität liegt in diesem Fall in der Unterschätzung der Risiken und dem Unverständnis der wahren Strategien des Kremls.

Wie war dies möglich?

Eine große Rolle dabei, dass Russland dies über viele Jahre hinweg tun konnte, spielten die Propaganda und die sogenannte Kulturdiplomatie, die die Illusion von Russland als Land der großen Kultur, des Balletts und der Romane Tolstois nährte. All dies diente in Wirklichkeit als Deckmantel für Sabotageakte, Korruption, Einflussnahme auf Wahlen und Geheimdienstoperationen. (…) Es ist offensichtlich, dass in der EU ein umfassendes Gesetzespaket verabschiedet werden muss, das den Einfluss Russlands auf Wahlen, die Finanzierung politischer Parteien und politischer Kampagnen verhindert und Möglichkeiten für Cyberkriminalität gegen die kritische Infrastruktur europäischer Länder blockiert. (…) Der ukrainische Widerstand hat Zeit gewonnen. Aber mein Rat an die Europäer lautet, diese Zeit nicht zu verschwenden und sich darauf vorzubereiten, dass Russland weiter voranschreiten wird.

Russland bezeichnet Wiktor Juschtschenko als „Gefängnis der Nationen“. Etwa 190 unterschiedliche Völker leben in dem Land. Um nur ein paar zu nennen: Tatarstan, Dagestan, Abchasien. Und „alle drei bis vier Jahre verschwindet eine Sprache. Damit stirbt ein Volk.“ Einige kämpfen, hebt er hervor: etwa die Tschetschenen. „Doch die Welt war blind, taub und gleichgültig. Auch wenn es mehr als 300.000 Tote gab, so sagte doch niemand ein Wort.“

Luxemburgs Außenminister Xavier Bettel mit dem aktuellen Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, letzte Woche während eines kurzen Besuchs in KiewLuxemburgs Außenminister Xavier Bettel mit dem aktuellen Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, letzte Woche während eines kurzen Besuchs in Kiew Foto: MAE Luxembourg
Vergangene Woche während eines kurzen Besuchs einer Luxemburger Delegation in KiewVergangene Woche während eines kurzen Besuchs einer Luxemburger Delegation in Kiew Foto: MAE Luxembourg