Publiziert9. Mai 2025, 17:35
Durchsagen: Fachleute entsetzt über SBB-Rückkehr zum «Personenunfall»
Die SBB sprechen künftig wieder von «Personenunfall» statt von «Fremdereignis». Bei Fachpersonen aus Psychologie und Suizidprävention sorgt dies für Unverständnis.
Die SBB kehrt zum Begriff «Personenunfall» zurück, was bei Fachleuten auf Kritik stösst.
Psychologen und Suizidpräventions-Experten warnen vor Nachahmungseffekten durch die Wortwahl.
Der Ausdruck «Personenunfall» könnte Suizide andeuten und gefährdete Personen beeinflussen.
Die SBB begründet die Änderung mit Unverständnis und Aggressionen von Reisenden gegenüber dem Begriff «Fremdereignis».
«Unverantwortlich», «unverständlich» und «falsch»: Die SBB kommunizierte diese Woche, bei Suiziden statt von «Fremdereignis» wieder von «Personenunfall» sprechen zu wollen – und das auf allen Kanälen. Daraufhin hagelte es von Fachleuten aus Psychologie und Suizidprävention öffentlich scharfe Kritik. Sie werfen der SBB auf Linkedin vor, wissenschaftliche Erkenntnisse zu ignorieren.
«Es ist bekannt, dass eine solche Kommunikation vermehrt zu Suiziden führt», sagt Urs Hepp, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie gegenüber 20 Minuten. Auch Eva-Maria Pichler, Chefärztin bei den Psychiatrischen Diensten Aargau, äussert sich deutlich: «Die SBB nimmt damit Suizide in Kauf. Hoffentlich überdenkt sie ihren Entscheid.» Der Psychologe Okan Yildirimlar fügt hinzu: «Es entsteht der Eindruck, dass die unmittelbare Kundenzufriedenheit höher gewichtet wird als der Schutz gefährdeter Personen.»
Begriff «Personenunfall» deute auf Suizid hin
Der Ausdruck «Personenunfall» in Durchsagen ist laut Yildirimlar problematisch, weil er in vielen Fällen unmittelbar auf einen Suizid hindeute – auch wenn es unausgesprochen bleibt. «Studien zeigen, dass solche Hinweise bei gefährdeten Menschen Nachahmungen auslösen können.»
Schienensuizide machen laut Pichler etwa zehn Prozent aller Suizide in der Schweiz aus. «Häufig betreffen sie jüngere Menschen in akuten psychischen Krisen.» Für Menschen in suizidalen Krisen ist es wichtig zu wissen, dass Suizide verhindert werden können und es zahlreiche Anlaufstellen und Hilfsangebote gibt. «Doch diese Botschaft kann bei einer kurzen Durchsage im Zug nicht vermittelt werden.»
Ausserdem dürfe die Kommunikation nicht den Eindruck erwecken, dass Suizid ein unvermeidbarer Unfall oder gar eine Lösung sei, betont die Chefärztin. Neutrale Formulierungen – Yildirimlar empfiehlt etwa «Ursache unbekannt» – schützten suizidgefährdete Personen besser, auch wenn Zugpassagiere damit weniger anfangen könnten.
Dass nur sehr zurückhaltend über Suizid berichtet wird, ist dem sogenannten Werther-Effekt geschuldet. Dieses Phänomen beschreibt die Tatsache, dass die Berichterstattung über Suizid weitere Suizide als sogenannte Imitationshandlungen hervorrufen kann. Es ist benannt nach einer Suizidwelle, die der Roman «Die Leiden des jungen Werthers» von Johann Wolfgang von Goethe im Jahr 1774 ausgelöst haben soll. Der Werther-Effekt ist wissenschaftlich gut belegt, etwa durch die Arbeit «Der Werther-Effekt: Bedeutung, Mechanismen, Konsequenzen» von W. Ziegler und U. Hegerl von 2002.
Neben der Berichterstattung spielt auch die Wortwahl bei der Prävention von Suiziden eine wichtige Rolle. Zwar hat sich bisher keine Studie explizit mit der Wirkung des Begriffs «Personenunfall» auseinandergesetzt. Dass jedoch schon kleine sprachliche Veränderungen einen Unterschied in der Wirkung haben können, zeigte 2018 eine Studie der Ludwig-Maximilians-Universität in München anhand verschiedener Begriffe, die die deutsche Sprache für Suizid kennt. Die Autoren um Florian Arendt kamen zum Schluss, dass «für eine verantwortungsvolle Berichterstattung auf eine möglichst neutrale Wortwahl geachtet werden sollte» – also auf Begriffe wie «Selbstmord» oder «Freitod» verzichtet werden sollte. Auch 20 Minuten übt Zurückhaltung bei der Berichterstattung über Suizide, wie in den publizistischen Leitlinien unter Punkt 5.2 festgehalten ist. (jcg)
Transparente Kommunikation
Wie Hepp findet, können die SBB die Passagiere in den direkt betroffenen Zügen durchaus transparent informieren. «Doch die Informationen, die sich flächendeckend an alle Passagiere richten, die potenziell von einer Störung betroffen sein könnten, sollten allgemeiner gehalten werden.» Sonst erhielten ÖV-Nutzer immer wieder Hinweise auf Schienensuizide, was dazu führe, dass diese Methode ins Bewusstsein vieler Menschen gerate. «Die SBB machen so Präventionsanstrengungen der letzten Jahre zunichte.»
Anders sieht das Martin Bolliger, Vizepräsident der Dargebotenen Hand. Aus seiner Sicht ist «Personenunfall» der treffendere Begriff, der auch helfe, das Thema Suizid zu entstigmatisieren, sagt er gegenüber persoenlich.com. Die Dargebotene Hand unterstütze eine klare und transparente Information.
Das sagt die SBB
Als Grund für die Kommunikationsänderung nennt die SBB, dass der Begriff «Fremdereignis» von den Reisenden nicht verstanden worden sei. «Mitarbeitende der SBB waren oft mit Unverständnis und vermehrt auch mit Aggressionen konfrontiert», so Reto Schärli, Mediensprecher der SBB. Den Vorwurf, dass die SBB Kundenbedürfnisse über anderes stelle, weist sie zurück: «Die SBB hat selber das grösste Interesse, dass es zu möglichst wenigen Personenunfällen kommt. Deshalb engagiert sich die SBB seit Jahren aktiv in der Suizidprävention und steht im Austausch mit den entsprechenden Fachstellen.» Auf Fragen zu den konkreten Vorwürfen der Fachleute wollte die SBB keine Stellung nehmen.
Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143
Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147
Pro Mente Sana, Tel. 0848 800 858
Seelsorge.net, Angebot der reformierten und katholischen Kirchen
Muslimische Seelsorge, Tel. 043 205 21 29
Jüdische Fürsorge, info@vsjf.ch
Kinderseele Schweiz, Beratung für psychisch belastete Eltern und ihre Angehörigen
Angehörige.ch, Beratung und Anlaufstellen
Verein Familientrauerbegleitung.ch
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