Herr Diner, Sie haben Ihre ersten Lebensjahre in Israel verbracht und sind mit Ihren Eltern als Achtjähriger ins Deutschland der Fünfzigerjahre gekommen. Später haben Sie in beiden Ländern gelebt. Wie hat sich die Atmosphäre aus Wirtschaftswunder und Verdrängung damals angefühlt?

Manches bewertet man erst, wenn man den Blick zurück wagt, ein Kind nimmt anders wahr. Aber in Frankfurt war jedes zweite oder dritte Grundstück ein Trümmergrundstück. Kinder haben sich täglich in dieser zertrümmerten Vergangenheit bewegt und mit dem Sammeln von Altmetall Geld für Süßigkeiten verdient. Die eigentliche Hürde war die Schule. Ich kam erst in der dritten Klasse dazu, konnte kein Deutsch und war nicht blond. Jeder neue Lehrer, der das Klassenzimmer betrat, starrte mich an. Und im Klassenbuch sah er gleich, dass ich weder katholisch noch evangelisch war. Ich habe also schon damals Fragen der Zugehörigkeit – des Auffallens, des Fremdseins – vorreflektiert: Es gab zwar noch keine Begriffe für sie, aber sie waren täglich spürbar. Dass ich Lederhosen haben wollte wie meine Mitschüler, fanden meine Eltern befremdlich. Mit heutigen Begriffen würde man vielleicht sagen: Die kurze Lederhose verlieh einem Kind die Aura der Zugehörigkeit.

Wie hat sich Ihr Jüdischsein in der Kindheit bemerkbar gemacht?

Schwer zu sagen. Ich kam ja nicht mit dem Bewusstsein des Jüdischseins, sondern des Israelischseins nach Deutschland. Das ist ein großer Unterschied. Meine Sehnsucht bezog sich auf Sand, Hitze, Hunde, Kakteen und auf ein festes Gefühl der Zugehörigkeit. Dieses Gefühl hat mich auch geschützt, denn ich kam von einem bestimmten, genau definierten Ort.

Schauplatz einer Nachkriegskindheit: die Westend-Synagoge in Frankfurt am MainSchauplatz einer Nachkriegskindheit: die Westend-Synagoge in Frankfurt am MainDaniel Pilar

Hatten Sie das Gefühl, dass Israel noch da ist, auch wenn Sie woanders sind?

Unbedingt. Mit all den Attributen, die für das Israelische – damals hätte man gesagt: das Hebräische – standen. Es war ja ein kulturelles Element, das weit über die Sprache hinausging. Es war stark säkular geprägt und bezog sich auf die dortige Erfahrungswelt der Vierziger- und Fünfzigerjahre. Ich habe in Frankfurt also in zwei verschiedenen Welten gelebt, und das war mir täglich bewusst. Was mir ebenfalls bewusst war: der Mehltau, der auf allem lag. Für diesen zeittypischen Mehltau habe ich ein besonderes Sensorium entwickelt.

Wenn Sie heute auf fast siebzig Jahre Verstehensgeschichte mit Deutschland zurückblicken, was sehen Sie da?

Ich würde meine Erfahrung mit Deutschland – halten Sie sich fest – als Geschenk ansehen. Sie hat mir die Möglichkeit gegeben, in eine Anatomie hineinzuschauen, als hätte sich das Objekt geöffnet wie ein Körper, dessen feinste Verästelungen ich studieren konnte. Bitte verstehen Sie dieses etwas seelenlose Bild nicht falsch. Mir bedeutet es viel, dass dieser Gegenstand – ein Land, eine Kultur – völlig offen da liegt und verstanden wurde. Insofern hat sich auch eine Sympathie für das Objekt entwickelt, während mir zugleich klar ist: Dazugehören kann ich nicht.

Daher Ihr besonderes Interesse an der deutschen Geschichte.

Ja, ich bin fasziniert von der deutschen Geschichte, besonders von den Jahren 1930 bis 1933. Fragen von Zufall und Kontingenz. Der 30. Januar 1933: Hitler und Hugenberg auf dem Weg zu Hindenburg, zankend. Was für ein Drama! Was die Gegenwart betrifft, öffnen sich übrigens wieder Konstellationen, die typischer für das 19. als für das 20. Jahrhundert waren. Vergessen wir nicht, dass die europäische Einigung mit der Absicht begann, die Rüstungskapazitäten Deutschlands und Frank­reichs zu neutralisieren. Es war im Ursprung eine sicherheitspolitische Maßnahme, deren nächster Schritt die Europäische Verteidigungsgemeinschaft sein sollte – zu der es dann nicht kam. Die Bundesrepublik war ein reiner Institutionenstaat. Wer hätte das nach 1945 gedacht? Es war geradezu ideal, man stand irgendwie zwischen der Schweiz und den Vereinigten Staaten. Aber kann das so weitergehen? Wenn das Europäische nicht hält . . .

. . . fallen wir dann wieder auf das Deutsche zurück?

Richtig. Das ist die große Frage. Deutschland und Frankreich: Geht das zusammen oder nicht? Ist Deutschland jetzt für Europa zu groß?

Wenn wir sehen, dass Bundeskanzler Merz die Franzosen, Briten und Polen mit Deutschland an einen Tisch bringt, um eine Kerngruppe der großen europäischen Nationen zu bilden und schneller zu einer gemeinsamen Haltung zu finden: Das ist doch kein schlechtes Zeichen.

Überhaupt nicht. Die Frage ist, ob es reicht. Es geht ja nicht darum, ob man es will oder nicht. Ich bin sicher, dass alle es wollen. Aber ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass Deutschland der Nachbar fast aller Länder im europäischen Kerngebiet ist, und wenn es Europa nicht gelingt, eine Neuauflage der EVG, der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, zu bewirken, dann steht Deutschland als sehr großes Land in der Mitte und hat viele Optionen.

Entspringen Ihre Sätze einem aus der deutschen Geschichte rührenden Unbehagen? Oder muss man nicht auch hier mit der Zaghaftigkeit deutscher Politiker rechnen, wenn es darum geht, sicherheitspolitische Verantwortung zu übernehmen und so etwas wie Stärke zu zeigen?

Ja, aber es ist eine selbst auferlegte Zaghaftigkeit. Sie ist ja auch nicht falsch. Es war wohl anlässlich der Unterzeichnung des Vertrags der Montanunion, da sagte Konrad Adenauer: „Ein deutscher Bundeskanzler hat sich vor der Bundesflagge einmal und vor der französischen Trikolore dreimal zu verbeugen.“ Das war die alte Bundesrepublik. Und es ging erst einmal um Kohle und Stahl.

Dieses Denken und Fühlen ist inzwischen vom Rhein an die Elbe verlagert worden.

Geschichte erzählen: Dan Diner in BerlinGeschichte erzählen: Dan Diner in BerlinOmer Messinger

Ja, die Teilung Deutschlands ist jetzt von einer geopolitischen zu einer Mentalitätsfrage geworden. In gewissem Sinn ist die gesamte DDR-Bevölkerung ab 1989 in die Bundesrepublik eingewandert, ohne dabei den Ort zu verlassen, an dem sie sich befand. Denken Sie an den Satz: „Entweder die D-Mark kommt zu uns, oder wir kommen zur D-Mark.“ Dabei geht es um alles, was in der Währung seinen Ausdruck findet, nämlich auch die Institutionen. Es waren Menschen, die nicht das vorweisen konnten, was andere im Westen hatten: Vermögen, Erbschaften und ähnliche Anwartschaften. Deutschland ist das einzige Land, dessen Teilstaat zum ehemaligen Ostblock gehörte – also geteilt war, zwei politische Systeme kannte und zwei verschiedene Mentalitäten ausgebildet hat. Das ist in allen anderen vormaligen kommunistischen Staaten nicht der Fall. Eine Trennung, wie es sie in Deutschland gibt, erinnert einen eher an die Spaltung in den USA durch den Amerikanischen Bürgerkrieg. Auch der wirkt noch viele Generationen später nach. Wir stehen also vor der Frage: Ist Deutschland in der Lage, sich politisch kleiner zu halten, als es ist, um europa­fähig zu sein? Oder wird es erklären: Wir haben keine Zeit, wir müssen uns beeilen. Darauf scheint Putin ja zu warten.

Was würde Deutschland in Ihren Augen denn tun, wenn es sich beeilen wollte?

Das lässt sich im Einzelnen nicht vorhersagen. Aber es ist ein großes Land und weltweit die drittgrößte Wirtschaftsmacht.

Man merkt davon nur so wenig.

Ja, weil Sie hier leben! Aber wenn Sie von außen schauen, bekommen Sie einen Blick dafür. Blicken Sie mal von Schweden aus, dann sehen Sie ein gewaltiges Land sich zwischen Skandinavien und dem Mittelmeer erstrecken, und das ist Deutschland.

Weckt das bei Ihnen Unbehagen?

Es gibt Dinge, die sich nicht verändern lassen, darunter die Geographie. Militärgeschichtlich gesehen, waren die langen inneren Linien das Drama der deutschen Mittellage. Wenn Sie das Heer nicht zwischen zwei Fronten aufspalten wollen, müssen Sie auf Geschwindigkeit setzen. Diese wiederum zieht zwangsläufig eine umso größere Gewaltanwendung nach sich. Denken Sie an den alten preußischen Satz: „Kriegsräson geht vor Kriegsmanier.“ Hoffen wir, dass diese Konstellation nicht wiederkehrt. So gesehen, glänzt die alte Bundesrepublik in immer hellerem Licht.

Sie meinen jetzt Adenauer bis Kohl.

In der Rückschau ist das unglaublich. Die Bundesrepublik war kein nationales Gemeinwesen, sondern reine Gesellschaft. Die Explosion der Soziologie als eine Art Leitwissenschaft fand nicht grundlos in der Bundesrepublik statt. Insofern blicke ich mit Trauer zurück und schätze mich glücklich, diese Zeit erlebt zu haben.

In Ihren frühen Schriften nehmen Sie dem jüdischen Staat gegenüber eine überaus kritische Haltung ein. Wie hat sich Ihr Blick auf Israel in den letzten fünfzig Jahren gewandelt? Was ist gleich geblieben?

Das Frühere hatte mit der Dominanz der Kategorien in der damaligen Geschichtsschreibung zu tun. In jenem Fall die Kombination von Karl Marx und Carl Schmitt. Es ging um die Herausstellung des absoluten Gegensatzes im Konflikt als einer alles bestimmenden Konstellation – was ja auch nicht ganz falsch ist.

Ihr Blick hat dadurch eine gewisse Kälte.

Weil ich die Begriffe in reiner Form gelten ließ. Mein späteres Buch „Der andere Krieg“ hat einer gewissen Weichheit – und der Rolle der lebendigen Geschichte – wieder mehr Raum gewährt.

Das Studium der Geschichte hat Sie zu größerer Wärme und einem größeren Verständnis der Handelnden geführt?

Absolut. Doch Verstehen bedeutet nicht Abwiegelung. Man sollte eine Position anstreben, die es erlaubt, darüber nachzudenken: Was ist in der Realität möglich? Und was nicht? Begriffe leben nicht.

Militärische Stärke und demographische Schwäche: Begräbnis eines im Gaza-Streifen getöteten israelischen SoldatenMilitärische Stärke und demographische Schwäche: Begräbnis eines im Gaza-Streifen getöteten israelischen SoldatenEPA

Was sehen Sie, wenn Sie im Mai 2025 auf den Konflikt im Nahen Osten schauen?

Ich sehe, wie sich eine Katastrophe aufbaut, deren Eintritt ich immer befürchtet hatte. Die radikalsten Tendenzen setzen sich durch. Israel ist ein gespaltenes Land – gespalten, was die Frage seiner Legitimität und damit des politischen Handelns angeht. Für die gegenwärtigen Machthaber geht es eher um die „Erlösung des Landes“, also ein politisch-theologisches Prinzip. Deswegen spielt für sie etwa das Schicksal der Entführten keine Rolle. Die Geiseln müssen notfalls geopfert werden. Die andere Seite rückt die Menschen in den Vordergrund, sie ist bereit, auf Anteile des Landes zu verzichten. Diese Spaltung ist in allen Bereichen der israelischen Gesellschaft zu erkennen – bei Dominanz der politisch-theologischen Orientierung, die in Israel „messianisch“ genannt wird.

Mit anderen Worten, Sie sehen schwarz.

Allein schon die demographische Konstellation lässt einen pessimistisch in die Zukunft blicken. Es ist eine Paradoxie, die alles bestimmt. Die jüdischen Israelis sind regional eine Minderheit, die aber als Mehrheit agiert. Die arabischen Palästinenser mögen im Staate Israel eine Minderheit sein, sind jedoch durch die regionale ethnisch-kulturelle Anbindung an die arabische Welt Mehrheit. Dies geht mit Verkehrungen von Schwäche und Stärke einher. Die israelischen Juden sind aktuell stark, aber historisch schwach, die arabischen Palästinenser aktuell schwach, aber historisch stark. Dementsprechend empfinden und handeln sie. Auch wenn die Israelis überlegen sind, haben sie ein hohes Bewusstsein von Schwäche. Es ist der Schwache, der ein Übermaß an Gewalt anwendet. Minderheiten, die sich am Rande der Vernichtung stehend empfinden, kämpfen mit der entsprechenden überbordenden Gewaltbereitschaft.

Was kann Israel tun, um die Hamas zu besiegen?

Mit militärischen Mitteln allein geht es offenbar nicht. Die Hamas hat sich ins Zen­trum eines palästinensischen Nationalismus eingefräst. Man kann sie schwer ­chirurgisch sauber ausreißen. Dann müsste man alles andere mitzerstören, was ja geschieht – mit allen moralischen Kosten, die an der äußeren Legitimität des Gemeinwesens nagen und es international isolieren. Ohne eine politische Perspektive für Israel und Palästina ergibt das Kämpfen keinen Sinn – oder man beabsichtigt, „mit den Philistern zu sterben“.

Ich habe mit der Anwendung des Begriffs Probleme. Ich kann ihn nicht definieren, aber ich erkenne ihn, wenn er mir begegnet. Judenhass erscheint in Legierungen. Insofern plädiere ich im Prinzip dafür, zwischen dem Konflikt und antisemitischen Phänomenen zu unterscheiden, auch wenn dies schwerfällt. Und auch wenn sie sich verschränken. Die Unterscheidung ist auch kulturell und herkunftsbedingt. Juden in der Diaspora empfinden eher Antisemitismus. Israelis sind empfänglicher für das Elend des Konflikts. Wer als Besatzungssoldat in den Dörfern der Westbank patrouilliert, empfindet Scham angesichts palästinensischer Kinderaugen.

Was ruft die Gewalt in Gaza hervor?

Bei mir Scham und Schande. Analytisch werden andere Begriffe gefragt. Im Prinzip handelt es sich nicht um einen Konflikt zwischen Militär und Militär, sondern zwischen Bevölkerung und Bevölkerung. Die eine ist besser organisiert und bewaffnet, die andere irregulär und terroristisch. Solche Konflikte sind besonders grausam. Hinzu tritt der Umstand, dass die israelische Regierung durch Siedlungspolitik ständig auf eine Verschärfung des Konflikts drängt. Und man darf nicht vergessen, dass die andere Seite auch nicht aus Waisenknaben besteht, was Gewaltanwendung angeht. Ihre Kampfform ist das Massaker, wenn man sie lässt – wie am 7. Oktober 2023 geschehen.

Was Sie jetzt entwickelt haben, lässt sich kaum in eine Handlungsanweisung an die Kriegsparteien übersetzen. Haben Sie wenigstens einen Rat für die Deutschen?

Das Problem für Deutsche besteht darin, dass sie tief im Inneren empfinden: Was im Nahen Osten passiert, hat viel mit ihnen selbst zu tun. Ohne sie wäre es vermutlich nicht zur Gründung Israels gekommen. 1948, das Gründungsjahr des Staates, war eine direkte Reaktion auf 1945 und was diesem Jahr vorausging. Ohne die Nazis und nach dem Abflauen der antisemitischen Ausschreitungen der Dreißigerjahre in Polen wäre die Einwanderung abgeebbt. Die Briten hatten bereits Ende der Dreißigerjahre eine konstitutionelle Versammlung für Palästina vorbereitet, und dies bei Gewährung einer jüdisch-kollektiven Existenz im Lande. Aber es ist nun einmal gekommen, wie es gekommen ist. Der Holocaust wurde verbrochen, und der Staat Israel ist gegründet worden.

Spuren der Vernichtung: Ausstellungsbesucher in der Gedenkstätte Yad Vashem in JerusalemSpuren der Vernichtung: Ausstellungsbesucher in der Gedenkstätte Yad Vashem in JerusalemReuters

In den letzten Jahrzehnten hat sich im Diskurs über Israel, den Westen und die sogenannte Dritte Welt in weiten Teilen der Öffentlichkeit die Perspektive des Postkolonialismus durchgesetzt. Darin wird Israel als „Siedlerkolonie“ beschrieben, die sich ins Herz der islamischen Ökumene vorgeschoben habe. Wie blicken Sie auf diese Deutung?

Das ist eine lange und komplizierte Geschichte mit persönlichen und theoretischen Bildern. Dazu möchte ich Ihnen eine Geschichte erzählen: Bevor meine Eltern mit mir als Kleinkind aus München, wo ich geboren wurde, nach Israel einwanderten, waren wir etwa zwei Jahre in Paris. Wir haben in der Nähe vom Trocadéro gewohnt, und ich spielte immer unten in dem Park am Eiffelturm. Da waren Kinder, die mit Murmeln spielten. Ich war zwei, drei Jahre alt, sie waren ein paar Jahre älter. Sie warfen diese wunderschönen Glasmurmeln in ein Loch, und ich bin einfach hin und habe sie mir rausgeholt, worauf sie mir Schläge androhten. Da trat ein Junge aus dem Maghreb aus der Gruppe, stellte sich vor mich und drückte mir drei, vier Murmeln in die Hand, und die Sache war erledigt. Ich habe das nie vergessen. Algerien spielte für mich eine wichtige Rolle, schon bevor ich Gillo Pontecorvos Film „Schlacht um Algier“ in den Sechzigerjahren gesehen habe. Irgendwie hatte ich mich immer mit beiden Seiten identifiziert, mit der FLN und mit den Pieds noirs – mit Camus, wenn Sie so wollen. Und ich wollte nicht, dass mit den israelischen Juden das passiert, was mit den Algerien-Franzosen geschehen ist.

Was bedeutet das für die heutige Diskussion über den Nahostkonflikt?

Natürlich haben Juden Palästina von außen her besiedelt, so wie zuvor alte jüdische Gemeinden in Palästina bestanden. Juden sind aus dem nahen Osteuropa wie aus dem islamischen Orient eingewandert. Und ja, auf Kosten beziehungs­weise zum Nachteil der Araber Palästinas. Es bestanden Elemente einer Kolonisation wie auch des Imperialismus. Also sehr hybride Elemente von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit zum Ort. Koloniales, Nichtkoloniales und gar Antikoloniales mischten sich. Ein Ort von Flüchtlingen und Vertriebenen, die andere zu Flüchtlingen und Vertriebenen gemacht haben. Alles wäre zur Ruhe gekommen, hätte die Siedlung nach 1967 die alten Gespenster nicht wieder zum Leben erweckt. Meine Haltung zu Algerien ist heute: Es hätte Umstände geben müssen, unter denen die Pieds noirs hätten bleiben können. Und ich möchte, dass Wege gefunden werden, damit die israelischen Juden als Kollektiv in Israel leben können, im Rahmen von Staatlichkeit. Aber es gibt noch ein Problem – und hier kommen wir in den Bereich der politischen Theologie –, das den Antisemitismus berührt, obwohl es aus dem Kontext des klassischen Antijudaismus stammt. Der Holocaust war eine absolute Vernichtung von Menschen, ein absoluter Genozid. Oder um mit Hannah Arendt zu sprechen: ein Verbrechen gegen die Menschheit, verübt am jüdischen Volk. Also eine negative Erzählung. Dieser absolute Genozid hebt die Juden heraus und rührt an eine sehr tiefe Schicht des jüdisch-christlichen Gegensatzes, nämlich die Frage des Auserwähltseins. Damit treten wir in einen Zusammenhang ein, von dem wir meinten, dass er längst abgelegt sei. Aber wir stellen fest, dass er zu emotionalen Reaktionen führt, die wir sonst kaum erklären können. In der Diskussion um Achille Mbembe etwa hieß es: Das ist ein Schwarzer, Afrikaner, er argumentiert universell. Aber der Mann ist Dominikaner! Das ist ihm doch viel näher, in jeder Hinsicht. Wir haben es mit sehr alten Mustern zu tun, die in einer anderen Gestalt wiederkehren.

Wie kann man von der Katastrophe des Holocaust einer Generation erzählen, die wenig liest und im Netz allen möglichen Lügen und Fiktionen ausgesetzt ist?

Es gibt keine Möglichkeit, aus der Gesamtheit der Geschichte eine Erklärung für das zu ziehen, was da geschehen ist. Das epistemische Verständnis, der biographische Schmerz, alles das, was zu einer derartigen Erzählung gehört – ob das überhaupt erlebbar ist, weiß ich nicht.

Wir müssen mit der Popularisierung und Sentimentalisierung des Themas leben?

Ja. Und in dem Augenblick wird das Ganze natürlich falsch. Beim Holocaust geht es ja nicht nur um Leiden. Es geht um die Aufhebung von Zweckrationalität, um deren Annullierung. Die Nazis haben Arbeit nicht als Mittel der Ausbeutung, sondern als Mordinstrument eingesetzt, zum eigenen Schaden, könnte man sagen. Das kann man an den Judenräten in den Ghettos ablesen, an der Wahrnehmung von Menschen, die glaubten, noch reagieren zu können auf das, was geschah. Aber es gab keine angemessene Reaktion. Was immer sie taten, alle Wege führten in den Tod. Als Friedrich Pollock nach dem Krieg erfuhr, was passiert war, sagte er zu seinen Frankfurter Freunden in Kalifornien: „Ich glaube, mit unseren Kategorien stimmt etwas nicht.“ Aus Max Horkheimers Tagebuchnotizen, mit denen ich mich in den Achtzigerjahren beschäftigt habe, konnte man ersehen, wie der Marxist in ihm angesichts des Geschehens regelrecht abstirbt. Der Begriff des Zivilisationsbruchs, den ich damals geprägt habe, entstand in diesem Lektürezusammenhang.

Was ist das Buch, das Sie noch nicht geschrieben haben?

Eine Rechts-Anthropologie von Massentötungen – und eine Art von Autobiographie. Dabei fällt mir eine Geschichte ein: Ich bin ja bis zum neunten Lebensjahr in Israel aufgewachsen. Wir Kinder waren grausam, wie Kinder eben sind. Da gab es einen merkwürdigen älteren Herrn, der selbst in der Hitze mit Anzug und Hut ziellos auf der Straße herumlief. Uns kam er merkwürdig vor. In der Seitentasche des Anzugs steckte eine Zeitung, deren Kopf man sah. Wir haben ihm nachgerufen, ihn geärgert, gar mit Steinen nach ihm geworfen, aber er hat nur hilflos seinen Mund bewegt. Er konnte nicht sprechen. Allmählich haben wir verstanden, dass der Mann taubstumm war. Er war der Sohn eines berühmten Wächters der frühen Ansiedler, der schon Ende des neunzehnten Jahrhunderts nach Israel gekommen war, Avraham Schapira. Der Sohn hieß Mendele. Sein Vater, in dessen Haus meine Mutter Hebräisch für Einwanderer unterrichtete, hatte ihn in den Zwanzigerjahren nach Berlin geschickt, um dort die Taubstummensprache zu erlernen, auf Deutsch. Wir Kinder haben die gotische Schrift im Kopf der Zeitung gesehen und ihn deshalb als Deutschen, als Nazifreund verspottet. Die Zeitung war die F.A.Z.