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Finnland unterscheidet kaum noch zwischen Krieg und Frieden mit Russland – der zweitjüngste Nato-Partner bereitet sich auf alles vor: Wehrpflichtige nehmen an einer militärischen Übung auf dem Schießplatz der Karelien-Brigade Pahkajärvi in Vekaranjärvi, nördlich von Kääpälä, Finnland, teil. In Finnland besteht weiterhin Wehrpflicht für alle männlichen Bürger Archivfoto © Alessandro Rampazzo / AFP
Angriff mit mindestens 80.000 Mann: Finnland hat durchspielt, wo und mit wie vielen Kräften Putin das nächste Land unterwerfen will. Die Zeit läuft.
Helsinki – „Es sei seine Aufgabe als Teil des Nato-Bündnisses, sich ,auf das Schlimmste vorzubereiten‘“, sagt Sami Nurmi. Gegenüber dem britischen Guardian äußerte der Generalmajor und Strategiechef der finnischen Streitkräfte, dass er „sehr genau“ beobachte, was Wladimir Putins Invasionskräfte an der Grenze zwischen seinem Staatsgebiet und Russland, also der Ostgrenze der Nato machten: Zelte, Unterstände für Kampfjets und Lagerhallen für Militärfahrzeuge zeugten von einer verstärkten russischen Präsenz in der Nähe eines der neuesten Nato-Mitglieder, schreibt aktuell die New York Times (NYT).
„Diese Maßnahmen könnten Aufschluss über ihre Strategie für die Zeit nach dem Ukraine-Krieg geben“, vermutet das Blatt. Finnland steht Gewehr bei Fuß – sowohl militärisch als auch gesellschaftlich. Wie die schwedische und die norwegische habe auch die finnische Regierung längst eine digitale Broschüre veröffentlicht, um die Bürger auf „Zwischenfälle und Krisen“ vorzubereiten, wie im November 2024 Politico berichtet hat. „Darin heißt es, das Land sei ,immer auf die schlimmstmögliche Bedrohung vorbereitet gewesen: Krieg‘“, so das Magazin.
Putin lässt aufmarschieren: Im Norden Russlands verzeichnen Satelliten verstärkte militärische Aktivitäten
An verschiedenen Standorten im Norden Russlands verzeichnen Satelliten verstärkte militärische Aktivitäten von Putins Armee. In der russischen Stadt Petrosawodsk soll Russland einen bestehenden Militärstützpunkt erweitern. Damit könne der Kreml rund 160 Kilometer östlich der Grenze zum zweitjüngsten Nato-Partner Finnland innerhalb der kommenden Jahre eine Basis für Zehntausende Soldaten geschaffen haben, mutmaßt das Wall Street Journal (WSJ). Auch nach Murmansk sei frisches Leben zurückgekehrt, schreibt die NYT: Einen dortigen Stützpunkt am Polarkreis sollen wieder Hubschrauber anfliegen, „nachdem sie zwei Jahrzehnte lang nicht dort gewesen waren“, so die NYT-Autoren Jeffrey Gettleman, Amelia Nierenberg und Johanna Lemola.
„Der Ausgangspunkt für umfassende Sicherheit ist das Verständnis, dass innere und äußere Sicherheit, zivile und militärische, öffentliche und private, Frieden und Krieg miteinander verknüpft sind“
In der Nähe von Murmansk, ebenfalls in der Arktis, auf dem Luftwaffenstützpunkt Olenja, sollen ihnen zufolge kürzlich Dutzende russische Kampfflugzeuge gesichtet worden sein. Zu den weiteren jüngsten Aktivitäten zählen die NYT-Autoren mehrere Hundert neue Zelte, die sogar schon vor etwa einem Jahr auf dem russischen Stützpunkt Kamenka aufgetaucht sein sollen – und damit weniger als 65 Kilometer von der Grenze zu Finnland entfernt. Auf einem Stützpunkt rund 130 Kilometer von Estland gelegen, sollen kürzlich neue Zelte und Militärausrüstung aufgetaucht sein, so die New York Times.
„Sie erweitern ihre Brigaden zu Divisionen, was bedeutet, dass die Einheiten in der Nähe unserer Grenzen erheblich wachsen werden – um Tausende“, zitiert das Blatt Emil Kastehelmi. Der Analyst gehört zur Black Bird Group, einer finnischen Organisation, die die militärische Entwicklung im Norden und in der Ukraine analysiert. Divisionen bestehen aus Kräften von 10.000 bis mehr als 20.000 – typischerweise aus rund 15.000 Kräften.
Russland aggressiv wegen Finnlands Nato-Beitritt: „Putin wies darauf hin, dass es Konsequenzen geben wird“
Im April 2023 erklärte der damalige russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu gegenüber der russischen Militärführung, dass der Beitritt Finnlands „das Risiko einer erheblichen Ausweitung des Konflikts mit sich bringt“, wie ihn die Nachrichtenagentur Reuters zitierte. Und bereits vor zehn Jahren hatte Russland deutlich davor gewarnt, dass Länder wie Schweden oder Finnland ihre Neutralität aufgeben, wie die schwedische Tageszeitung Dagens Nyheter den damaligen schwedischen Botschafter Viktor Tatarintsev zitierte: „Putin wies darauf hin, dass es Konsequenzen geben wird. Russland müsse militärisch reagieren und seine Truppen und Raketen neu ausrichten. Ein Nato-Beitrittsland muss sich der Risiken bewusst sein, denen es sich aussetzt.“
Finnland könnte rund 950.000 Kräfte aufmarschieren lassen, allerdings sind davon fast alle Reservisten; aktiven Dienst üben rund 25.000 Kräfte aus, dazu kommen rund 54.000 in paramilitärischen Verbänden, wie beispielsweise dem Heimatschutz. Im Verteidigungsfall können aus den Reservisten heraus adhoc 280.000 Soldaten mobilisiert werden. „Der Ausgangspunkt für umfassende Sicherheit ist das Verständnis, dass innere und äußere Sicherheit, zivile und militärische, öffentliche und private, Frieden und Krieg miteinander verknüpft sind“, sagte Cai-Göran Alexander Stubb Mitte 2024 in einer Rede vor der Hertie-School in Berlin. Der Präsident der Republik Finnland sieht „in einer zunehmend interdependenten und technologisch abhängigen Welt ,alle unsere kritischen Infrastrukturen bedroht: physisch, digital und sozial‘“, wie er sagte.
„Das Leben in der guten alten Zeit war ziemlich klar … Krieg war Krieg und Frieden war Frieden“, so Stubb weiter. Die Zeit scheint vorbei zu sein. „Es gibt Grautöne zwischen Frieden und Krieg. Das ist die neue Normalität im Zusammenleben mit Russland“, sagt Jarno Limnell. Das Wall Street Journal (WSJ) hat den finnischen Parlamentarier kürzlich zitiert, weil Limnell wiederholt hinweist auf Russlands subtil hybriden Krieg gegen Finnland – der aber schnell in konkrete militärische Manöver münden kann, wie das finnische Blatt Italehti (Il) Ende 2024 berichtet hat.
Nach dem Ukraine-Krieg: Putins Invasionsarmee will wohl einen Brückenkopf auf Nato-Land errichten
Aufgrund eines Treffens der Joint Expeditionary Force (JEF), einer schnellen Eingreiftruppe von neun nordischen Ländern, geht Finnland davon aus, dass Russland einen gleichzeitigen Angriff mehrerer verschiedener russischer Militäreinheiten plant und auch schon geübt haben soll, wie Il-Redakteur Lauri Nurmi schreibt. Demnach würde von Norden her das 14. Armeekorps von Murmansk aus die norwegische Küste zu Wasser, zu Land und aus der Luft angreifen, so Italehti. Wie der norwegische Barents Observer bereits Anfang Januar berichtet hatte, ginge der finnische Militärgeheimdienst davon aus, dass spätestens mit Beendigung des Ukraine-Krieges dieses Armeekorps auf seine Sollstärke von bis zu 80.000 Kräften ausgebaut werden soll.
Nach Finnisch-Lappland würden Landungstruppen entsandt, schreibt das Blatt. Das derzeit in Karelien stationierte 44. Armeekorps solle ebenfalls aufgestockt werden, so der Barents Observer – was die Aufnahmen der Satelliten offenbar bestätigen. Die drei nördlichsten russischen Brigaden seien die 200. motorisierte Schützenbrigade, die 61. Marineinfanteriebrigade und die 80. motorisierte Infanteriebrigade. Während die beiden ersten im Bezirk Petschenga lägen, also nah an der Grenze zu Norwegen, befände sich die 80. motorisierte Infanteriebrigade in Alakurtti, dicht am finnischen Grenzübergang Salla in Lappland, so Observer-Autor Thomas Nilsen. Laut Italehti würden die Russen dort in Lappland wohl versuchen, schnell den Flughafen Ivalo einzunehmen.
Russlands Albtraum: Finnlands Neutralität Schlüsselelement der Sicherheit der russischen Außenpolitik
Das Medium geht nach Angaben der Joint Expeditionary Force davon aus, Russland würde versuchen, Nordlappland und die norwegische Finnmark in eine Pufferzone umzuwandeln und sich damit auf Nato-Territorium festzusetzen. Das JEF rechne kaum mit einem versuchten Durchbruch ins Landesinnere Finnlands, sondern lediglich damit, dass Putins Invasionsarmee einen Brückenkopf auf Nato-Land errichten wolle an der Nordküste des Finnischen Meerbusens und Südostfinnlands – damit sollte wohl die finnische Hauptstreitmacht gebunden werden, um eine Unterstützung der Verteidigung des parallel angegriffenen Estlands zu erschweren oder ganz zu unterbinden.
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Finnlands Neutralität sei bis in die Gegenwart ein Schlüsselelement der Sicherheit der sowjetisch-russischen Außenpolitik gewesen, so der Historiker Christian Streit vom Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS). Ihm zufolge hätte Stalin sich aufgrund des territorialen Zugewinns abgewandt von seiner Maximalforderung der „Sowjetisierung Finnlands“. Grenzen würden offenbar ihre Bedeutung zusehends verlieren, wie Jarno Limnell befürchtet. Der Parlamentarier hatte gegenüber dem Wall Street Journal geklagt, dass nichts mehr sei, wie seit dem Beginn von Finnlands Neutralität nach dem Zweiten Weltkrieg: „Jahrzehntelang haben wir Friedens- und Kriegszeiten getrennt betrachtet. Die Grenzen dieser Konzepte verschwimmen langsam.“