Dieser Artikel wurde zuerst im „Télécran“ veröffentlicht (Ausgabe 23/2025). Hier können Sie das Wochenmagazin abonnieren.

„Sie versteht mich wie niemand anderer“, stellt Marie-Louise Gloesener-Jacqué entschieden fest und streicht der eng neben ihr auf der Gartenbank sitzenden Natalia Sanchez fast schon verschwörerisch über den Arm. Die beiden Frauen blicken geistesabwesend vor sich hin. Sie schmunzeln. Und das, obwohl der Hintergrund dieser Feststellung von Grauen geprägt ist.

Die 82-jährige Luxemburgerin und die 50-jährige Chilenin teilen ein ähnliches Familienschicksal und wer genauer hinschaut, dem entgeht nicht, dass ein zarter Tränenschleier die Augen beider feucht in der grellen Vormittagssonne schimmern lässt. Ihre beiden Väter wurden verschleppt und grausam gefoltert, weil sie den jeweils Machthabenden aufgrund ihrer liberalen Lebenseinstellung ein Dorn im Auge waren. Der eine unter der NS-Herrschaft Hitlers, der andere unter der Militärdiktatur Pinochets. Wobei Natalia Sanchez‘ Vater – im Gegensatz zum Papp von Marie-Louise Gloesener-Jacqué – nach vielen Torturen, teils Nahtoderfahrungen, am Ende wieder nach Hause zurückkam. Wenn auch als seelisch tief gebrochener Mann.

Natalia Sanchez, Marie-Louise Gloesener-Jacqué und Lex Gillen (v.l.n.r.) haben über das Projekt „Geschichten aus dem Duerf“ zueinander gefunden. Foto: Gerry Huberty

„Vielleicht bin ich auch deshalb ein wenig wie Sie: Ich gehe immer weiter. Und weiter. Ba, ba, ba“, überlegt Natalia Sanchez, während sie ihre Feststellung mit kleinen, aber energischen Schlägen in die Luft untermalt. Circa 12.000 Kilometer Luftlinie und drei Jahrzehnte liegen zwischen den brutalen Geschehnissen. Und doch haben die biografischen Parallelen irgendwie auch dazu geführt, dass die beiden Frauen vor circa acht Jahren im Großherzogtum zusammengefunden haben.

Rund um das Jahr 2016 suchte die Theaterpädagogin gemeinsam mit dem Kulturschaffenden Lex Gillen nach Zeitzeugen, die vor 1950 geboren worden waren. Für das von der lokalen, partizipativen Aktionsgruppe LEADER Zentrum Westen umgesetzte und finanzierte Projekt „Geschichte vum Duerf“ sollten diese Protagonisten davon erzählen, wie sie das Leben auf dem Land früher empfunden haben. So stießen die beiden Gründer der gemeinnützigen Kulturorganisation Kultrun – übrigens benannt nach einer traditionellen Zeremonientrommel des indigenen Mapuche-Volkes in Chile – auch auf Marie-Louise Gloesener-Jacqué.

Ich habe als Kind so unglaublich viel Heimweh gehabt.

Marie-Louise Gloesener-Jacqué

Oder sollte man besser sagen: Letztere wurde gestoßen? Liebevoll, aber bestimmt. Nämlich von ihrem Bruder Roger, der ebenfalls im biografischen Sammelwerk, das auf Basis der Aufzeichnungen entstanden ist, zu Wort kommt. „Er meinte zu mir: Da kommt jemand, um mehr über unsere Familiengeschichte zu erfahren. Da machst du mit!“, erinnert sich das Nesthäkchen unter den vier Jacqué-Geschwistern. „Immerhin war er 15 Jahre älter und was er sagte, war quasi Gesetz.“ Zumal der große Bruder nach dem viel zu frühen Tod ihres Papas im KZ Groß-Rosen im heutigen Polen die Vaterrolle ihr gegenüber einnahm. „Du weess jo, dass doheem nach eent op iech waart. […] Ech léieren hat net mi kennen, mee lief du sou, wéi wann s du säi Papp wiers a maach alles, dass et him un näischt feelt“, habe der Vater seinen ältesten Sohn eindringlich gebeten, nachdem man ihn im Lager fast totgeschlagen hatte. „Er wusste noch viel mehr zu erzählen als ich“, so Marie-Louise Gloesener-Jacqué.

Emotionale Verbindung

Im Buch „Aus dem Duerf. Liewensgeschichten“, das nach einer ersten französischen Fassung jüngst auch auf Luxemburgisch erschienen ist, schildern der Erst- und die Letztgeborene der Bauernfamilie aus Holzem im Wesentlichen dieselbe Geschichte. Doch der jeweilige Blickwinkel steht, bedingt durch den großen Altersunterschied, dann doch in starkem Kontrast zueinander.

Marie-Louise war gerade einmal sechs Wochen alt, als ihre Eltern im April 1943 mitsamt den Geschwistern Roger, Josy und Eugénie, von den Nationalsozialisten deportiert wurden, weil ein unzufriedener Nachbar sie wegen Schwarzschlachtens angeschwärzt hatte.

Das Neugeborene kam in die Obhut des Onkels in Mamer, wo das Kind im Glauben aufwuchs bei dem Ehepaar, das sich so liebevoll um es kümmerte, handele es sich um seine Eltern – und die Cousine und der Cousin, mit denen es so unbeschwert spielte, seien seine Geschwister. „Meine Zeit dort war wunderschön, auch wenn die Familie einfache Bauersleute waren“, meint die 82-Jährige rückblickend. Außerdem war ihre heißgeliebte „Bomi“ ebenfalls in Mamer für sie da. „So eine findet man heute nicht mehr“, ist sich die resolute Dame sicher.

Als entsprechend herzzerreißend empfand das kleine Mädchen den Moment, als die ihr völlig fremde Mutter mitsamt den ebenso fremden Geschwistern nach dem Krieg plötzlich zurück nach Luxemburg kehrte und die knapp Zweijährige wieder mit in ihr Elternhaus nach Holzem nahm. „Ech si matgaang, ech hat jo och keen anere Choix, an sou hunn ech misse mäin Doheem, mäi Kannerhäerz, meng éischt Andréck, meng Léift fir Mamer – ouni gefrot ze ginn – hannert mir loossen“, formuliert es die Zeitzeugin im Buch.

In diesem Bauernhaus in Mamer, welches Marie-Louise Gloesener-Jacqué als Kind so sehr vermisste, nachdem sie wieder mit ihrer Mutter nach Holzem zurückgekehrt war, lebt bis heute ihr Cousin Arthur. Foto: Christophe Olinger

Wie die Wolken zog es auch ihre Gedanken in den Folgejahren immer wieder sehnsuchtsvoll nach Mamer. Bis heute, wie Marie-Louise Gloesener-Jacqué mit nostalgisch verklärter Wehmut versichert. „Ich habe als Kind so unglaublich viel Heimweh gehabt“, seufzt sie und fügt schmunzelnd hinzu: „Die Glocken in Mamer haben immer schöner geläutet als die Holzemer.“

Tränen schießen ihr in die Augen und sie muss kurz innehalten, als sie sich im „Télécran“-Gespräch noch einmal bewusst wird, wie bedeutungsvoll die Aufzeichnung ihrer Biografie für sie war. „Es war mein Leben, es ist unsere Geschichte! Und Lex Gillen, der damals bei mir war, hat das sehr gut verstanden.“

Auch der 56-Jährige ringt mit seinen Emotionen, als er davon berichten will, wie ergreifend er das Interview mit Marie-Louise und vor allem auch jenes mit ihrem Bruder Roger empfunden hat. Roger Jacqués Schilderungen fielen deutlich heftiger aus als die seiner Schwester, schließlich hatte der Holzemer, der nach der Rückkehr aus der Deportation in die Fußstapfen seines Vaters trat, die brutalen Misshandlungen als Teenager hautnah miterlebt. „Hien hat keen Zant a keng Ae méi am Kapp“, sagt er in der Niederschrift über seinen Vater.

Das biografische Sammelwerk „Tranches de Vie“ ist kürzlich auch auf Luxemburgisch erschienen: „Aus dem Duerf. Liewensgeschichten“ von Marie-Paule Greisch, Marc Bonert und Jean Nehrenhausen, Editions Phi, 200 Seiten, ISBN 978-2-919818-40-2 Foto: Gerry Huberty

Lex Gillen ist froh drum, dass es diese Erzählungen ins Buch geschafft haben. Die Veröffentlichung der Schilderungen anderer wurde nachträglich untersagt, sei es, dass die Protagonisten aus emotionalen Beweggründen heraus einen Rückzieher gemacht haben oder rechtliche Konsequenzen befürchtet wurden, weil manch ein Genannter in einem wenig vorteilhaften Licht in Erscheinung trat.

Das gedruckte Resultat des Projekts, an dem Roger Jacqué so bereitwillig mitgewirkt hatte, bekam der Zeitzeuge allerdings nicht mehr zu sehen, da er kurze Zeit nach den Aufzeichnungen verstarb. Ihm folgten in den letzten Jahren noch einige der 14 im Buch porträtierten Zeitzeugen nach. Marie-Louise Gloesener-Jacqué ist eine der wenigen Protagonisten, die den kürzlichen Launch der luxemburgischen Ausgabe noch miterleben durften.

Biografie statt Therapie

Zum launigen Zeitvertreib düst die zweifache Mutter und vierfache Großmutter regelmäßig in ihrem Auto zur Wemperhardt, um in den Geschäften zu stöbern. Offenbar geht’s ihr gut. Auch wenn die auffallend rüstige Seniorin mit steigendem Alter immer häufiger über ihre Kindheit und das Schicksal ihrer Familie grübelt, wie sie sagt. „Noch mehr, seit ich Enkel habe.“

Entsprechend betroffen macht sie auch die aktuelle Weltlage: der Krieg in der Ukraine, die unmenschliche Situation in Gaza … und vor allem die vielen Flüchtlingskinder, die oft keine Eltern mehr haben. „Ich erinnere mich noch genau an eine Fernsehreportage, als der Krieg in der Ukraine ausbrach. Dort zeigten sie einen Soldaten, der seinem Kind zum Abschied nochmal den Reißverschluss am Anorak hochzog. ,Ob er das Kind jemals wiedersehen wird?‘, sagte der Reporter. Und ich fühlte mich natürlich sofort daran erinnert, dass einer der Deutschen, die meinen Vater damals mitgenommen haben, zu ihm meinte: ,Sie werden das Kind nie wiedersehen.‘“

Marie-Louise Gloesener-Jacqué ist dankbar, in den „Liewensgeschichten aus dem Duerf“ nicht nur eine manifeste Würdigung ihrer Familiengeschichte gefunden zu haben, sondern vor allem auch eine Art Ventil für ihre seelischen Blessuren. „Viele Menschen, die den Krieg miterlebt haben, haben bis heute nicht über ihre schlimme Vergangenheit gesprochen“, bedauert die Seniorin. „Man ging ja auch früher nicht einfach zum Psychologen.“

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Nachdem sie in 1980er-Jahren bereits eine Reise ins KZ Groß-Rosen unternommen hat, um das Schicksal ihres Vaters aufzuarbeiten – „ihm dort im Geiste nah zu sein und den Boden unter meinen Füßen zu spüren, auf dem er zuletzt unterwegs war: Das hat mir so unendlich gutgetan“ –, stellen die „Liewensgeschichten“ und das Sprechen über ihr Leben definitiv einen weiteren bedeutenden Schritt in Richtung Seelenfrieden dar.

Ihre Geschichte ist damit allerdings noch nicht zu Ende geschrieben. Dieser Meinung ist offenbar auch Natalia Sanchez „Vielleicht bringen wir die Biografien von Madame Gloesener und ihrem Bruder ja irgendwann auf die Bühne“, denkt die Theaterpädagogin kurz vor Abschied schonmal vorsichtig über eine mögliche Fortsetzung ihres Projekts nach.