Am Mittwoch diskutiert der Ständerat einen neuen Vorschlag, um Partnerländer auch dann beliefern zu können, wenn sie sich in einem Konflikt befinden. Für die Rüstungsindustrie hängt viel von diesem Entscheid ab.

Nadja Wohlleben / Reuters
Als «ausgezeichnet» bezeichnet das Aussendepartement die Beziehungen zwischen der Schweiz und den Niederlanden. Der Austausch sei politisch, aber auch wirtschaftlich intensiv und freundlich. Das mag auch daran liegen, dass die beiden Länder lange Zeit eine vergleichbare Geschichte hatten, als neutrale Staaten in Europa. Seit 1815 waren die Niederlande neutral und wurden ebenfalls nicht in den Ersten Weltkrieg hineingezogen. Gegen Nazideutschland schützte die Neutralität des Landes aber nicht. Die Wehrmacht besetzte es und veränderte damit die Politik massgeblich. «Für uns war das ein Schock», sagt die niederländische Botschafterin in Bern, Karin Mössenlechner, auf Anfrage der NZZ. Ihr Heimatland habe damals erkannt, dass es für seine Sicherheit mit anderen zusammenarbeiten müsse. Aus diesem Grund sei das Land schliesslich Gründungsmitglied der Vereinten Nationen (Uno), der Nato und der EU geworden.
PD
Die Schweiz ging einen anderen Weg. Als wir vom Zweiten Weltkrieg verschont wurden, wurde die Neutralität ein noch wichtigerer Teil der Schweizer Identität. Heute wird dieser Wert im europäischen Raum jedoch immer weniger verstanden. Mössenlechner sagt zwar, sie habe grosses Verständnis für die Position der Schweiz – gerade wegen der Geschichte ihres Landes.
Die Schweiz: eine Profiteurin der Pax Americana
Doch die Sicherheitslage in Europa hat sich verändert seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. «Die Schweiz profitiert auch von der Sicherheit der Nato und der EU und hat – genauso wie wir in den Niederlanden – lange von der Pax Americana profitiert», sagt die Botschafterin. In den kommenden Jahren müssten die europäischen Länder sehr viel mehr in die eigene Sicherheit investieren. Das sei eine gemeinsame Herausforderung.
Die Niederlande würden die derzeitigen politischen Debatten in der Schweiz mit grossem Interesse verfolgen. Damit meint die Botschafterin vor allem die Diskussionen zum restriktiven Kriegsmaterialgesetz. Dieses wurde kurz vor dem russischen Angriff auf die Ukraine verschärft, seither sind diverse Versuche gescheitert, es zu lockern.
Das niederländische Parlament war das erste in Europa, das Schweizer Kriegsmaterial offiziell meiden will. Es fasste den Entscheid im März 2023. Zuvor hatte der Bundesrat zwei Geschäfte mit Kriegsmaterial untersagt. In beiden Fällen sollte das Material an die Ukraine weitergeleitet werden: Deutschland wollte alte Leopard-1-Panzer aus der Schweiz erwerben, um diese instand zu setzen und in die Ukraine zu schicken. Die Niederlande hätten den Kauf finanziert. Zudem beantragte Berlin die Wiederausfuhr von 12 400 Schuss Schweizer Munition für den Flugabwehrpanzer Gepard. Der Bundesrat lehnte beides mit Verweis auf die Neutralität ab.
Parlamentsantrag, um Druck auf die Schweiz auszuüben
In Den Haag stiessen die Entscheide auf Unverständnis. Die Schweizer Weigerung könne auf dem Schlachtfeld und in den Städten der Ukraine über Leben und Tod entscheiden, lautete ein Votum. Ein Parlamentsantrag forderte, «die Abhängigkeit von Schweizer Waffen und Munition» solle «auf europäischer Ebene» verringert werden. Die Regierung sollte «Druck» auf Bern ausüben, damit es die Wiederausfuhr von Waffen und Munition für die Ukraine zulässt. Drei Monate später zeigte sich der damalige Ministerpräsident Mark Rutte – inzwischen Nato-Generalsekretär – «sehr enttäuscht» über das Nein aus Bern, Leopard-1-Panzer der Ruag für die Ukraine zu exportieren. Vor kurzem kam der Deal allerdings zustande, jedoch mit der Bedingung, dass die Panzer nicht in die Ukraine weitergegeben werden.
Diesen März kam auch Druck aus Deutschland. Der deutsche Botschafter erklärte ausgewählten National- und Ständeräten im Bundeshaus: Sollte die Schweiz ihre Waffenexporte nicht lockern, bestelle sein Land nichts mehr. Dies wäre ein schwerer Schlag für die hiesige Rüstungsindustrie. Deutschland ist der grösste Abnehmer von Schweizer Kriegsmaterial.
Die Niederlande zählen gemäss dem Kieler Institut für Weltwirtschaft zu den grössten Unterstützern der Ukraine. Bis März 2025 stellten sie militärische Hilfe im Wert von über 6 Milliarden Euro bereit, Rang acht weltweit. Die Schweiz leistete im selben Zeitraum humanitäre Hilfe von knapp einer Milliarde Euro. «Die Niederlande sind überzeugt, dass der Krieg in der Ukraine ganz Europa und die internationale Rechtsordnung betrifft. Deshalb unterstützen wir das Land tatkräftig in seinem Selbstverteidigungskampf», sagt Mössenlechner. Die gelieferten Waffen und die Munition stammen entweder direkt von Rüstungsfirmen oder aus den eigenen Armeebeständen. «Wir haben der Ukraine sehr viel zur Luftverteidigung gespendet, etwa Patriot-Systeme», so die Botschafterin.
Diesen Mittwoch befasst sich der Ständerat mit einem neuen Vorschlag, um das Kriegsmaterialgesetz zu lockern. Die Sicherheitspolitische Kommission will, dass Partnerstaaten wie die Niederlande, die im Anhang 2 des Kriegsmaterialgesetzes aufgeführt sind, auch dann beliefert werden können, wenn sie in einen bewaffneten Konflikt verwickelt sind. Damit wäre gewährleistet, dass die Schweiz auch im Fall eines Nato-Bündnisfalls nach Artikel 5 weiter liefern würde. Artikel 5 des Nato-Vertrages besagt, dass ein bewaffneter Angriff gegen ein Mitglied als Angriff gegen alle gilt und alle dem angegriffenen Staat Beistand leisten müssen. Heute darf die Schweiz keine Waffen an Länder exportieren, die sich im Krieg befinden.
«Diese Lockerung würde schon helfen», sagt Mössenlechner. «Für uns ist entscheidend, dass wir hier gekauftes Verteidigungsmaterial auch benutzen können – für unsere eigene Verteidigung oder die unserer Partner und Verbündeten.»
Welche Rolle will die Schweiz einnehmen?
Karin Mössenlechner war von 2013 bis 2016 stellvertretende Direktorin der Abteilung Sicherheitspolitik im niederländischen Aussenministerium und wirkte mit an der ersten internationalen Sicherheitsstrategie des Landes. «Schon damals war die wachsende Instabilität in Europa sichtbar», sagt sie heute. Mössenlechner verweist auf die russische Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim und den Abschuss des Passagierflugzeugs MH17 über der Ostukraine 2014. «Trotz diesen Ereignissen konnte wohl niemand voraussehen, wie rasch Sicherheit, Freiheit und Demokratie in Europa unter Druck geraten würden.» Jedes Land müsse seinen Platz finden in der neuen, instabilen Weltordnung, auch die Schweiz: «Ich sehe, dass die Schweiz Mühe hat herauszufinden, welche Rolle sie spielen will.» Sie verstehe, dass es sich um extrem schwierige Fragen handle und das neutrale Land seine eigenen Antworten finden müsse: «Allerdings hoffe ich, dass die Schweiz um ihre Verantwortung als gleichgesinntes Land im Herzen Europas weiss.»