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Schrotflinten, Netze, Scheren – damit versucht die Ukraine bisher Putins Glasfaserdrohnen beizukommen. Die Nato trommelt jetzt kluge Köpfe zusammen.

Tallinn – „Erkennen, Verfolgen, Neutralisieren“, lautete die Überschrift über einen Wettbewerb der Nato für die beste Idee zur Bekämpfung von via Glasfaserkabeln gesteuerten Drohnen – Wladimir Putins Invasionsarmee flutet damit die Gefechtsfelder des Ukraine-Krieges und stellt die Verteidiger bisher vor enorme Herausforderungen. Am 20. Juni will die Nato in Tallinn in Estland herausfinden, welche Idee imstande ist, Russland endgültig zu stoppen.

„Derzeit beruht die beste Verteidigung auf einer Kombination aus passiven und aktiven Gegenmaßnahmen und sollte auch robuste Signalaufklärung und andere Formen der Informationsbeschaffungstechniken einbeziehen, um russische Kommunikation abzufangen und ihre Drohnenteams zu orten“, sagt Federico Borsari. Das Magazin Defense News zitiert den Analysten des US-Thinktanks Center for European Policy Analysis (CEPA) dahingehend, dass die Glasfaserdrohnen „ein neues Kapitel im Katz-und-Maus-Spiel um Innovationen und Gegenmaßnahmen im Drohnenkrieg auf beiden Seiten aufgeschlagen“ hätten, so Borsari. Jetzt will die Ukraine mit Hilfe der Nato aus Russlands Windschatten heraustreten.

Eine ukrainische Glasfaserdrohne während eines Testflugs.

Testflug: Auch die Ukraine rüstet nach mit immer neueren Glasfaserdrohnen. Sie sind immun gegen elektronische Kriegsführung, bleiben für feindliche Funkaufklärung unsichtbar, gewährleisten qualitativ hochwertige Kommunikation über große Entfernungen und werden vom Funkhorizont nicht beeinflusst. Jetzt wollen die Nato und die Ukraine den Spieß umdrehen und versammeln kluge Köpfe zur Entwicklung von Gegenmaßnahmen in Estland. © IMAGO/Mykhaylo PalinchakNeues Bild der Ukraine: Straßen und Felder, die mit einem dichten Gewirr aus glitzernden Fäden bedeckt sind

Organisiert wurde die „Nato Innovation Challenge“ vom Allied Command Transformation, dem in Großbritannien sitzenden und 2003 gegründeten Kommando, das die militärische Zukunftsfähigkeit des Bündnisses organisatorisch realisieren und dabei aufgrund angepasster Doktrinen Konzepte erarbeiten soll. Tatsächlich zielt der jetzt ausgeschriebene Wettbewerb unter mehreren Bewertungskriterien auf die „operative Relevanz für ukrainische Streitkräfte“, wie die Nato schreibt.

Daneben zählen technische Machbarkeit, Skalierbarkeit und einfache Integration, Kosten-Nutzen-Verhältnis sowie Modularität und Flexibilität bei der Bereitstellung. Lösungen haben innerhalb von sechs Monaten bis einem Jahr einsatzbereit zu sein. Zur Teilnahme aufgerufen waren auch ausdrücklich ukrainische Unternehmen. Bis zu zehn Vorschläge werden ins Finale einziehen, schreibt das Magazin The Journal of Electromagnetic Dominance.

„Das ist die Frage, die sich jeder stellt: Ist es möglich, das Kabel zu zerstören? Ich kann Ihnen sagen, es ist sehr robust, aber wir arbeiten daran.“

Die neuen Lösungen sollen Glasfaserdrohnen zudem auf mindestens 500 Meter erkennen können, sie sollen höchstens 100.000 US-Dollar an Gesamtkosten verursachen und dürfen maximal 100 Kilogramm wiegen. Einsendeschluss für die neuen Ideen, um Putin den Kampf anzusagen, war der 30. Mai. Am 20. Juni sollen die Ergebnisse in Estland getestet werden. Ende April war Estlands erstes Ausbildungszentrum für unbemannte Luftfahrzeuge eröffnet worden – auf dem Grasflugplatz Koigi, wie Defense Industry Europe geschrieben hat. „Dieses Zentrum erweitert die Ausbildungsmöglichkeiten für Einheiten und stärkt die Zusammenarbeit mit unseren Verbündeten“, zitiert das Magazin Peeter Karja vom Estnischen Zentrum für Verteidigungsinvestitionen (ECDI).

Die Glasfaserdrohne habe den Charakter des Ukraine-Krieges geprägt, schreibt aktuell Francis Farrell: 2024 galt ihm zweifellos als das Jahr der First-Person-View-Drohnen (FPV), „deren charakteristisches Kreischen durch die Luft und unscharfe statische Bilder oft die letzten Momente im Leben eines Soldaten festhielten“, so der Autor des Kiyv Independent (KI). Dieses Jahr stelle sich anders dar – durch „Bilder von kilometerlangen Netztunneln, die über ganze Straßen gezogen sind, von Stadtstraßen und Feldern, die mit einem dichten Gewirr aus glitzernden Fäden bedeckt sind, und von denselben FPV-Drohnenangriffsaufnahmen, jetzt jedoch in perfekter Kameraqualität“, wie er schreibt.

Russlands neue Waffe wirkt: Die Verwendung von Glasfaser-FPV hat „explosionsartig zugenommen“

Nach dem überraschenden Versagen aller überkommenen russischen Kriegstechnik beziehungsweise Gefechtstaktik hat sich Russland mit den Glasfaserdrohnen einen neuen Vorteil erarbeitet. Die Verteidiger hätten diese Technik einsatzfähig entwickelt, aber gerade in der russischen Region Kursk, in die die Ukraine überraschend vorgedrungen war, hätten Moskaus Glasfaserdrohnen zur Wende beigetragen, behauptet die Washington Post (WP). Die WP-Autoren Siobhán O‘Grady, Kostiantyn Chudow und Serhii Korolchuk berufen sich auf ukrainische Quellen, wonach russische Truppen mit den bis zu 20 Kilometer weit reichenden Waffen sowohl die Logistikrouten der Ukrainer kontrollieren konnten als auch viel Kriegsgerät zerstört haben, was zum Rückzug beigetragen habe.

Erstaunlicherweise haben weder die Ukraine noch die Nato bisher effektive Maßnahmen gegen die Glasfaserdrohnen gefunden. Wie Defense News schreibt, hätten die Verteidiger bisher eine „FPV-Verfolgungstaktik“ präferiert: Sie hätten die im hellen Sonnenlicht reflektierenden Fasern der Drohnen zu den russischen Piloten zurückverfolgt, schreibt Defense News-Autorin Elisabeth Gosselin-Malo. Da jedoch die Verwendung von Glasfaser-FPV „explosionsartig zugenommen“ habe, so Gosselin-Malo, seien die Schlachtfelder nun mit Labyrinthen von Glasfasern übersät, was eine Identifikation der Ursprünge erschwere bis unmöglich mache.

Die feste Verbindung zwischen Pilot und Drohne hinterlasse nach jedem Flug eine physische Faserspur, die sichtbar würde, sobald sie sich anzusammeln beginne, beispielsweise wenn die Drohne eine Kurve fliege beziehungsweise, wenn sie sich nach einem Einsatz zurückzöge oder über einem künftigen Ziel in der Luft verharre, wie der Kiyv Independent festhält. Damit begeben sich die Piloten auf beiden Seiten in Lebensgefahr: „Die Faser reflektiert das Sonnenlicht sehr gut und ermöglicht es, den Ausgangspunkt zu finden“, sagt „Skhid“. „Deshalb ist es besser, öfter die Position zu wechseln“, so der Befehlshaber eines FPV-Drohnenteams im ukrainischen Achilles Angriffsdrohnenregiments gegenüber dem KI.

Selenskyj stolz: „Elf unserer ukrainischen Unternehmen beherrschen bereits die Produktion solcher Drohnen“

„Skhid“ sieht in der neuen Waffe tatsächlich eine Revolution im Drohnenkrieg: „Sie sind wirklich großartig, wenn man in ein Gebäude wie eine große Halle oder einen Hangar hineinfliegen muss, um zu sehen, ob sich dort etwas befindet, das sofort angegriffen werden kann. Dasselbe gilt für andere Arten von Deckung und Flüge in Waldgebieten“, zitiert ihn der Kiyv Independent.

Allerdings scheint diese Waffe, so altbacken sie daherkommt, gleichermaßen resistent gegen Abwehrmaßnahmen zu sein. Offenbar galoppiert die Optimierung dieser Drohnen der Entwicklung von ebenbürtigen Gegnern davon, wie der britische Guardian kürzlich aufgrund einer Äußerung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj veröffentlicht hat: „Seit Jahresbeginn sind mehr als 20 neue zertifizierte Drohnenmodelle mit Glasfaser-Steuerungssystemen auf den Markt gekommen. Elf unserer ukrainischen Unternehmen beherrschen bereits die Produktion solcher Drohnen“, sagte er laut dem Guardian und versprach, die Produktion so schnell wie möglich hochzufahren.

Trotz dessen scheint der Anteil der kabelgebundenen FPV-Drohnen am Drohnenkrieg in der Ukraine noch sehr klein: „Wenn ich einen Prozentsatz nennen müsste, würde ich sagen, dass es weniger als fünf Prozent sind“, sagt „Yas“ gegenüber dem Magazin The War Zone. Trotz dessen mutmaßt der Kommandeur der 12. Spezialkräftebrigade Asow, dass sie mehr und mehr den Verlauf der Kampfhandlungen bestimmen. Russlands Drohnen an Glasfaserkabeln seien den ukrainischen kabellosen Drohnen in Batterielaufzeit sowie in der Zielerfassung deutlich überlegen, hat die Washington Post behauptet.

Ukraine wehrt sich mit allen Mitteln: „Ist es möglich, das Kabel zu zerstören?“

Laut dem Analysten Federico Borsari habe die Ukraine vieles probiert, um der Situation Herr zu werden, beispielsweise Drohnenabfangjäger beziehungsweise Quadrocopter mit kleinen Bomblets, um die kabelgebundenen Drohnen vom Himmel zu vertreiben, so die Defense News. Allerdings scheint der Erfolg mäßig gewesen zu sein. Neben der Entwicklung eigener konkurrenzfähiger Glasfaserdrohnen, verfolge die Ukraine eine weitere Strategie, behauptet das Magazin Nordic Defence Review: Dem zufolge experimentierten die ukrainischen Streitkräfte mit Infrarot- und Akustik-Erkennungssysteme, um anfliegende Glasfaserdrohnen zu identifizieren und sie mit Schrotflinten und Scharfschützengewehren gezielt anzugreifen.

Panzer, Drohnen, Luftabwehr: Waffen für die Ukraine

Kampfflugzeug des Typs „Gripen“ aus Schweden

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Bisher bleiben auch diese Mittel zur Bekämpfung der Glasfaserdrohnen in ihrer Wirkung begrenzt, wie auch der Guardian einräumt. Die Ukraine soll auch schon häufig Netze aufgespannt haben, um die Drohnen samt ihrer Kabel dort drinnen zu verwickeln, wie der Guardian berichtet. Ebenfalls versuchten sich die Verteidiger „an Methoden, die Kabel zu durchtrennen oder zu verbrennen“, so Guardian-Autor Dan Sabbagh über die Gedanken des Kommandeurs des ukrainischen Achilles-Regiments: „Das ist die Frage, die sich jeder stellt: Ist es möglich, das Kabel zu zerstören?“, so Hauptmann Jurij Fedorenko: „Ich kann Ihnen sagen, es ist sehr robust, aber wir arbeiten daran.“