AboMitten im Feierabendverkehr –

Ein Mann klettert auf einen Strommast und legt weite Teile des Bahnnetzes lahm – wie ist das möglich?

Menschenmenge auf einem belebten Bahnhof, umgeben von Zügen unter einem überdachten Bahnsteig.

Viele Menschen, viel Frust: Szene am Bahnhof Bern am Mittwochabend.

Foto: Konrad Staehelin / «Tagesanzeiger»

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In Kürze:Ein junger Mann, der auf einen Strommast kletterte, legte den Bahnknoten Olten während der Stosszeit komplett lahm.Die SBB mussten neunzig Verbindungen zwischen wichtigen Schweizer Städten streichen.Überfüllte Ausweichverbindungen via Luzern und Biel brachten die Reisenden an ihre Grenzen.

Die Handlung einer einzelnen Person hat am Mittwoch dazu geführt, dass 90 Züge im Feierabendverkehr ausgefallen sind und Tausende Personen ihr Ziel deutlich verspätet erreicht haben. Um etwa 16.45 Uhr war ein 29-jähriger Mann am Bahnhof Olten auf einen Fahrleitungsmast geklettert. Kaum hatten sie dies bemerkt, schalteten die Verantwortlichen der SBB den Strom ab – und zwar nicht nur auf der nächstgelegenen Fahrleitung, sondern im ganzen Bahnhof. «Es ging um ein Menschenleben», schreiben die SBB. «Schon nur die Annäherung an eine Fahrleitung ist lebensgefährlich.»

Zunächst versuchte eine Polizeipatrouille, mit dem Mann ins Gespräch zu kommen. Auch zog die Polizei Spezialisten der Verhandlungsgruppe bei, ausserdem die Feuerwehr und eine Dolmetscherin. Um 18.15 Uhr liess sich der Mann auf das Perron fallen, wobei er sich Bein- und Beckenverletzungen zuzog. Zum Motiv des Mannes konnte die Kantonspolizei Solothurn am Donnerstagnachmittag noch keine Angaben machen.

Ausweichrouten via Luzern und Biel

Während der Dauer des Vorfalls konnte kein Zug mehr Olten passieren. Ausgerechnet Olten, den Verkehrsknotenpunkt des Mittellands, wo alle Züge zwischen Bern und Zürich respektive Basel durchfahren müssen. Züge, die bereits unterwegs waren, hielten an Bahnhöfen an. 

Bei den Zügen, die noch nicht auf der Strecke waren, war zunächst von einer «unbestimmten Verspätung» die Rede, weil sich «Personen in Gleisnähe» befänden. Offenbar gingen auch die SBB davon aus, dass sich die Situation bald klären würde.

Als sich abzeichnete, dass dies nicht der Fall war, strichen sie die Züge reihenweise ganz. Reisenden zwischen Zürich und Bern empfahlen die SBB via Lautsprecherdurchsagen an den Bahnhöfen, über Luzern zu fahren. Jene zwischen Basel und Bern sollten Verbindungen über Biel wählen.

SBB: Züge zu verlängern, war nicht möglich

Was solche Umleitungen von Passagierströmen auslösen können, zeigte sich in seiner extremsten Form wohl auf dem Zug, der um 18 Uhr von Bern in Richtung Luzern losfuhr. In diesen drängten sich nicht nur jene Menschen, die diesen Zug sowieso hätten besteigen wollen. Sondern auch jene, die ursprünglich mit den sechs Regelzügen nach Zürich hätten reisen wollen, die seit der Stromabschaltung in Olten ausgefallen waren. Selbst in der ersten Klasse des Zuges nach Luzern sassen die Passagiere gedrängt am Boden. Alle schwitzten, obwohl die Klimaanlage lief.

Die SBB schreiben, es sei nicht möglich gewesen, die ausgefallenen Züge kurzfristig auf den Umleitungsstrecken einzusetzen. «In der Hauptverkehrszeit ist die Kapazität der Strecken ausgeschöpft. Die Umleitung zusätzlicher Züge ist nicht ohne weiteres möglich.» Auch eine Verlängerung der ordentlichen Kompositionen sei nicht möglich gewesen, da die meisten Züge bereits in maximal möglicher Länge verkehrt seien. In einigen Fällen sei eine Verlängerung zudem nicht möglich gewesen, weil die Perrons der angefahrenen Bahnhöfe nicht lang genug seien.

Bericht des Bundesrats empfiehlt Prävention

Ironischerweise hatte der Bundesrat nur fünf Tage vor der Blockade in Olten im Auftrag des Parlaments einen Bericht veröffentlicht, der sich mit solchen Risiken für den Bahnbetrieb auseinandersetzt. Dieser identifizierte Olten als einen der systemkritischen Knotenpunkte. Ebenfalls führten die Autoren die Bahnknoten Bern, Zürich-Oerlikon, Winterthur und Muttenz sowie als ganze Strecken jene zwischen Genf und Lausanne sowie zwischen Olten und Zürich auf. Überall hier verfüge das Netz über nicht genügend Redundanz. Das heisst, dass der Verkehr bei Blockaden nicht ausweichen kann.

Die Autoren empfehlen, dass Massnahmen «zum Substanzerhalt und zum Ausbau der Bahninfrastruktur geplant, bewertet und gegebenenfalls beschlossen werden». Für die Strecken Genf–Lausanne und Olten–Zürich laufen bereits entsprechende Studien. Teilweise sei aber ein Ausbau der Infrastruktur, also zum Beispiel die Realisierung einer Ausweichstrecke, nicht möglich. 

Darum sei es wichtig, in jedem Fall das Risiko zu senken, dass es überhaupt zu Unterbrüchen komme. «Dazu gehören präventive Massnahmen im Hinblick auf technisches Versagen von Anlagen, IT-System und Rollmaterial sowie Naturgefahren oder Sabotage», steht im Bericht. Nach dem Vorfall vom Mittwoch müssen sich die SBB also fragen, ob sie ihre Strommasten besser vor Kletterern schützen müssen.

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