Der Parc Tony Neuman in der Hauptstadt ist am Nachmittag ein beliebtes Ziel für alle, die in Limpertsberg etwas Erholung oder Schutz vor der Sonne suchen. Die vielen dichten Bäume spenden Schatten, unter dem es sich Erwachsene auf Holzbänken bequem machen. Ein paar Kinder laufen spielend herum. Es ist eine Idylle inmitten der Stadt. Doch für all das haben Jasmin Sinanovic und Adnan Halilovic keinen Blick. Sie betrachten eine brusthohe Installation, die noch unter einer Plastikplane versteckt ist.
Jasmin Sinanovic hat das Grauen von Srebrenica überlebt. Foto: Anouk Antony
Für Halilovic, den Präsidenten des „Comité du génocide de Srebrenica Luxembourg“, geht ein langgehegter Wunsch in Erfüllung – und das fast auf den Tag genau 30 Jahre nach einem der furchtbarsten Ereignisse der jüngeren europäischen Geschichte. Am 11. Juli 1995 begann der Genozid an der Zivilbevölkerung von Srebrenica, der Tausende Menschen zur Flucht veranlasste. Viele Vertriebene kamen nach Luxemburg. Am Vorabend des Jahrestags wird nun endlich auch in Luxemburg ein Gedenkstein für die Opfer des Massakers enthüllt.
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Halilovic wurde in Bosnien geboren, kam aber schon als kleines Kind nach Luxemburg. Was damals in Srebrenica geschah, ist für ihn als Angehörigen der zweiten Generation ein Teil seiner familiären Erzählung. Für Jasmin Sinanovic ist es mehr als das: Er hat den Genozid selbst miterlebt – und nur mit viel Glück überlebt.
Das Reden fällt schwer
Nach außen wirkt der höflich-zurückhaltende 51-Jährige sehr ruhig, doch er gesteht, wie schwer es ihm auch nach drei Jahrzehnten fällt, über die Ereignisse von damals zu reden. Seine Familie versuche, nicht so oft darüber zu sprechen; lange hätten seine Hände dann gezittert, verrät er. Das Leid seiner Familie beschränkt sich nicht auf die Tage des Massakers vom 11. bis 19. Juli 1995, sondern fing schon Jahre zuvor an. Alles geht zurück auf die geopolitischen Umwälzungen am Ende des Kalten Kriegs.
Kränze werden vor dem Monument niedergelegt. Foto: Anouk Antony
Als der Vielvölkerstaat Jugoslawien 1991 zu zerfallen begann, kam es auch in Bosnien-Herzegowina zu Freiheitsbestrebungen. Die bosnischen Muslime wollten einen eigenen Staat gründen, die bosnischen Serben plädierten für einen Anschluss an Serbien. Als Reaktion auf die bosnische Unabhängigkeitserklärung kam es im April 1992 zum Krieg. Jugoslawische Truppen und Milizen der serbisch geprägten Republika Srpska begannen, Menschen nicht serbischer Herkunft zu vertreiben. Sarajevo wurde belagert.
Der Gedenkstein erinnert an 8.372 Bosniaken, die als Opfer des Massakers bekannt sind. Foto: Anouk Antony
Jasmin Sinanovic und seine Familie lebte seinerzeit in Bratunac, das rund zehn Kilometer von Srebrenica entfernt liegt. Eigentlich wollte der junge Mann Maschinenbau lernen, doch als sein Ort ebenfalls Ziel ethnischer Vertreibungen wurde, musste die Familie fliehen. Dabei fällt seine Schwester Senada mit 27 Jahren einer serbischen Granate zum Opfer. „Wir haben sie im Juli 92 verloren“, erinnert sich Jasmin. Die Überlebenden suchen Schutz in der Stadt Srebrenica, die von den Vereinten Nationen zur UN-Sicherheitszone erklärt worden ist. Niederländische Truppen sollen dort die Sicherheit der Zivilbevölkerung garantieren. „Wir dachten, wir sind in Sicherheit, die UN sind da. Sie sagten uns: ‚Wir schützen euch, wir bringen euch zu essen.“
Jasmin Sinanovic spricht im Interview über seine Erinnerungen. Video: Anouk Antony / Schnitt: Jil Reale
Bangen ums Überleben
Doch die kommenden drei Jahre sind ein ständiges Bangen ums Überleben. „Wir hatten nicht viele Reserven, die Versorgung war sehr schwierig, humanitäre Hilfe kam viel zu wenig an“, sagt Sinanovic. Mit zunehmender Dauer eskaliert der Bosnienkrieg, bis es schließlich zur Katastrophe kommt. Serbische Einheiten unter Führung von General Ratko Mladić überrennen am 11. Juli 1995 Srebrenica. Die fahrlässig unterbewaffneten niederländischen Blauhelm-Soldaten leisten keinen Widerstand, als die Serben Frauen und Kinder von den Männern trennen. Mehr als 8.000 Bosniaken werden erschossen und in Massengräbern verscharrt.
Zahlreiche Angehörige der bosniakischen Community in Luxemburg nahmen an dem Festakt teil. Foto: Anouk Antony
Auch Jasmin Sinanovics Vater verliert dabei sein Leben; Teile seiner sterblichen Überreste werden Jahre später identifiziert und auf würdevolle Art beigesetzt. Eines Tages habe er mit seiner Mutter versucht, die vielen Opfer unter den Verwandten zu zählen, sagt Jasmin. Er stößt ein lautes „Pfff…“ aus und sagt: „Vergiss es…“ Es seien mehr als 50 Opfer gewesen. Andere Verwandte seien noch immer traumatisiert.
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Wir dachten, wir sind in Sicherheit, die UN sind da. Sie sagten uns: ‚Wir schützen euch, wir bringen euch zu essen.‘
Jasmin Sinanovic
Srebrenica-Überlebender
Inmitten des Chaos schließt sich Jasmin Sinanovic damals einer Gruppe von Tausenden Männern an, die versuchen, in einer Kolonne in die knapp 100 Kilometer entfernte Stadt Tuzla zu marschieren. Während des fast einwöchigen Marsches geraten die Flüchtlinge mehrfach unter Beschuss, viele sterben vor Erschöpfung. Sinanovic überlebt, bleibt eine Zeit lang in Tusla, wo er seine heutige Frau kennenlernt und heiratet. Sie gründen eine Familie und leben seit 1999 in Luxemburg.
Luxemburg ist die neue Heimat
Das Großherzogtum ist jetzt seine Heimat; Sinanovic hat mehr Zeit dort verbracht als in Bosnien. „Mir sinn haut Lëtzebuerger“, sagt er. Die beiden Söhne seiner getöteten Schwester, die 1995 auch ihren Vater verloren, leben heute in Deutschland. „Den jüngsten habe ich vergangene Woche besucht, er hat einen Sohn bekommen, was mich sehr freut“, sagt Sinanovic.
Die Region Srebrenica gehört heute zur Republika Srpska, die muslimischen Bosniaken sind dort eine Minderheit. Die Spannungen mit den Serben haben nie aufgehört.
Mir sinn haut Lëtzebuerger.
Jasmin Sinanovic
Srebrenica-Überlebender
Dass das Monument nun im Park Tony Neuman steht, ist kein Zufall: Nicht weit entfernt befindet sich eine Einrichtung von Don Bosco, wo in den 1990er-Jahren viele Flüchtlinge aufgenommen wurden. „In diesem Sinne ist dieser Park symbolisch, weil er eng mit der Ankunft der Bosniaken in Luxemburg in Verbindung steht“, sagt Adnan Halilovic. Zudem sind viele Schulen in der Nähe.
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Vom nahen Spielplatz hört man das fröhliche Rufen kleiner Kinder. Vielleicht werden sie später einmal, mit der Schule, vor dem Gedenkort stehen und von den Gräueltaten erfahren, die das Leben so vieler Menschen in Luxemburg geprägt haben. Es freue ihn, sagt Jasmin Sinanovic, dass auch nachkommende Generationen ein großes Interesse daran zeigen.
Gedenkmonument feierlich enthüllt
Bei einer Gedenkfeier mit zahlreichen Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurde am Donnerstagabend der Gedenkstein für die Opfer von Srebrenica enthüllt. Die Bürgermeisterin der Stadt Luxemburg, Lydie Polfer, erinnerte an die furchtbaren Ausmaße des Massakers, das jedoch in der breiten Gesellschaft Vergessenheit zu geraten drohe, weshalb das Monument wichtig sei. „Sie haben diese Gesellschaft bereichert“, sagte Polfer in Richtung der bosnischen Community, die sich gut integriert habe. „Eine Gesellschaft, die sich der Verletzungen der Vergangenheit erinnert, ist eine gerechtere, stärkere und humanere Gesellschaft“, sagte Amela Skenderovic im Namen des Srebrenica-Comitée.