In ihrem Beruf am Nato Defense College in Rom denkt sie das Undenkbare – und im Gespräch mit der NZZ sagt sie, die direkte Konfrontation zwischen der Nato und dem Westen habe längst begonnen.

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Florence Gaub denkt über den Horizont der militärischen Szenarien hinaus. Am Nato Defense College in Rom erforscht sie unter anderem die Auswirkungen der grossen Trends auf die Sicherheitspolitik und die Folgen für die Allianz. Bei ihren öffentlichen Auftritten nimmt Gaub ihre Zuhörerinnen und Zuhörer mit auf eine Reise in eine manchmal nicht so erfreuliche Zukunft, allerdings stets so, dass am Ende auch Raum für eine positive Wendung bleibt.
Die Menschen, ob Politiker, Militärs oder Zivilgesellschaft, haben es in der Hand, den Gang der Welt zu beeinflussen: indem sie sich mit dem auseinandersetzen, was kommen könnte – und daraus kluge Entscheidungen ableiten.
Die NZZ hat die deutsch-französische Zukunftsforscherin am Swiss Economic Forum (SEF) in Interlaken getroffen.
Frau Gaub, als Zukunftsforscherin bei der Nato beschäftigen Sie sich mit der Welt von morgen. Wie denkt man das Undenkbare?
Indem man sich diszipliniert aus der Gegenwart herauslöst. Wir haben bei der Nato mehrere Institutionen, die sich mit Zukunft befassen. Die Teams von Allied Command Transformation etwa, die Streitkräfte-Entwickler des Nato-Oberkommandos, denken über langfristige, wahrscheinliche Entwicklungen nach – bis zu zwanzig Jahre voraus. Unser Team hingegen bearbeitet die Zone dazwischen, sagen wir fünf bis zehn Jahre, und wir fokussieren uns besonders auf das Unwahrscheinliche – das, was am Rande des Denkbaren liegt.
Also das Gegenteil von Trendforschung?
Genau. Wenn ein Thema schon in aller Munde ist – etwa ein chinesischer Angriff auf Taiwan –, dann beschäftigen wir uns nicht mehr damit. Dann fragen wir eher: Was, wenn ein Erdbeben Taiwan trifft? Oder wenn ein Konflikt zwischen China und den USA nicht um Taiwan, sondern im Weltall ausbricht? Gerade dort gibt es ein wachsendes Arsenal sogenannter «Counter Space Weapons». Das sind Technologien, mit denen etwa Satelliten gestört oder zerstört werden können. Der Unterwasserbereich ist ein anderes solches Gebiet – Drohnen, Datenkabel, U-Boote, all das findet unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung statt.
Und was passiert mit den Szenarien, die Sie entwickeln?
Wir beenden jedes Szenario mit einer Rückprojektion in die Gegenwart. Es geht nicht darum, Science-Fiction zu schreiben. Sondern um die Frage: Was müssen wir heute tun, wenn dieses Szenario eintreten könnte? Was sind die Lehren für unsere Fähigkeiten, unsere Verträge, unsere Infrastruktur? Nur so wird aus spekulativem Denken eine sicherheitspolitische Handlungsempfehlung.
Was konkret ergibt sich daraus, etwa für das Weltall?
Wir müssen zuerst ein Bewusstsein für die Bedeutung des Weltalls entwickeln. Viele Nato-Staaten besitzen keine eigenen Fähigkeiten im Weltraum. Dabei wäre es dringend nötig, sich dieser Dimension bewusst zu werden. Es gibt Überlegungen für internationale Verträge zur Regulierung militärischer Aktivitäten im All – momentan gibt es da nur vage Prinzipien, aber keine belastbaren Mechanismen. Das ist gefährlich.
Sie sagen, Krieg sei nicht das wahrscheinlichste Szenario – aber das gefährlichste. Wie verkauft man diese Logik demokratischen Gesellschaften?
Es ist wie mit dem Fahrradhelm. Vielleicht stürzt man nie – aber wenn doch, dann ist man froh, vorbereitet zu sein. Es geht nicht darum, Panik zu erzeugen. Sondern um die Erkenntnis: Krieg ist möglich, auch wenn er unwahrscheinlich scheint. Die Wahrscheinlichkeit ist seit 2022 gestiegen. Und selbst unwahrscheinliche Szenarien können enorme Konsequenzen haben.
Wie nahe sind wir einem Konflikt zwischen der Nato und Russland?
Die direkte Konfrontation hat längst begonnen. Russland führt seit Jahren Cyberoperationen gegen westliche Staaten durch. Was viele befürchten – ein klassischer Einmarsch in ein Nato-Land –, halte ich für wenig wahrscheinlich. Viel eher erwarte ich hybride, schwer zuzuordnende Ereignisse. Nehmen wir an, eine norwegische Forschungsexpedition wird von einer Unterwasserdrohne gerammt. Alle Zeichen sprechen für eine russische Aktion – aber man kann es nicht beweisen. Was dann?
Die entscheidende Frage ist: Wer interpretiert den Vorfall wie? Wer entscheidet, ob das ein Bündnisfall ist?
Eben. Wenn die Reaktion uneinheitlich ausfällt, droht die Abschreckungswirkung zu zerfallen. Deshalb sind Szenarien so wichtig – nicht, um sie exakt vorherzusagen, sondern um die Entscheidungsfähigkeit in der Krise zu verbessern.
Sind die westlichen Demokratien überhaupt in der Lage, in solchen Szenarien zu denken?
Sehr unterschiedlich. Finnland ist da vorbildlich. Politik und Bevölkerung haben eine hohe Bedrohungswahrnehmung. Es besteht ein hoher gesellschaftlicher Zusammenhalt. Andere Länder – nun ja. Wir bei der Nato reisen viel nach Helsinki, um zu lernen, wie strategisches Szenario-Denken institutionell verankert werden kann. In Ländern mit weniger Krisenerfahrung fehlt oft der Reflex, systematisch über das Undenkbare nachzudenken.
Die Schweiz weigert sich in weiten Teilen sogar, die gegenwärtige Lage zu verstehen. Spielen wir bei Ihren Nato-Überlegungen überhaupt eine Rolle?
Natürlich. Die Schweiz ist ein Nato-Partner – und zwar nicht irgendeiner, sondern ein relevanter. Auch wenn sie kein Mitglied ist, wird sie über ihre Beteiligung am Nato-Programm «Partnership for Peace» als Teil der erweiterten Familie wahrgenommen. Ihre geografische Lage macht die Schweiz zu einem Schlüsselgelände: bei der Resilienz von kritischen Infrastrukturen, als Knotenpunkt des europäischen Stromnetzes oder auch bei der Mobilität militärischer Kräfte.
Das spricht für eine Verantwortung, die über ein neutrales Schulterzucken hinausgeht.
Mindestens sollte die Schweiz aktiv mitdenken. Es wäre irritierend, wenn rundherum alle Staaten aufrüsteten und ihre Resilienz auch militärisch stärkten – und nur die Schweiz im Beobachtungsmodus verharren würde. Das passt nicht in ein Netzwerksicherheitsdenken. Sicherheit kann man heute nur gemeinsam verteidigen.
Reden wir über die Zukunft des Krieges: Der Krieg in der Ukraine verläuft konventionell: Artillerie, Bodentruppen, hohe Verluste. Wie passt das zu den ganzen Zukunftsszenarien?
Zwei Punkte: Erstens hat Russland ein klassisch strukturiertes Militär mit hoher Toleranz gegenüber eigenen Verlusten und riesigen Reserven an Artilleriemunition. Wer genau hinsah, konnte das vor dem Einmarsch am 24. Februar 2022 erwarten. Zweitens kam die Überraschung von den Ukrainern – primär von ihrer operativen Kreativität im Umgang mit Drohnen und ihrer mentalen Standfestigkeit. Technologische Innovation allein ist nie entscheidend – entscheidend ist, was die Menschen damit tun.
Also ist auf dem Gefechtsfeld der Zukunft auch weiterhin die menschliche Denkkraft gefragt, in der geschickten Kombination von modernsten und konventionellen Mitteln?
Ganz genau. Deshalb warnen wir auch vor einer auf Technologie fixierten Denkweise. Denken Sie nicht nur in Waffen oder Sensoren. Denken Sie darüber nach, wie Sie Ihre Mittel operativ und taktisch geschickt einsetzen. Denken Sie kreativ. Wir hatten eine Simulation, in der Nato-Offiziere die Rolle russischer Offiziere übernehmen sollten. Dieser Perspektivenwechsel ist entscheidend für neue Ideen.
Und doch: Der Krieg in der Ukraine stagniert. Beiden Seiten gelingt es nicht, die Initiative zu übernehmen.
Es geht eben nicht um möglichst viel Zerstörung – es geht darum, den Gegner zu einer Handlung zu zwingen, die er eigentlich nicht will. So sagt es der preussische Kriegsphilosoph Carl von Clausewitz. Deshalb sind psychologische, moralische und kognitive Dimensionen mindestens so wichtig wie die kinetischen am Boden und in der Luft. Überraschung, Durchhaltefähigkeit und symbolische Wirkung – das sind die echten Entscheidungsfaktoren.
Sie sagten bei einem Auftritt, die Nato habe sich wieder auf einen eingefrorenen Konflikt eingestellt, aber diesmal mit mehr Truppen im Baltikum. Ist das nicht gefährlich?
Immer, wenn man sich auf nur ein Szenario einschiesst, wird es gefährlich, weil dann das Denken endet. Genau dann passieren Überraschungen. Russland hat kürzlich seine neue Marinedoktrin veröffentlicht – für uns ein Alarmzeichen, dass wir wieder mehr über die maritime Sphäre nachdenken müssen. Auch das Mittelmeer hat die Nato zu lange vernachlässigt. Dort zeigt Russland Präsenz – übrigens zusammen mit China. Die Überraschung ist ein zentrales Element der Kriegsführung.
Treffen Überraschungen Demokratien besonders hart?
Leider ja. Demokratien sind friedenssozialisiert. Sie tun sich schwer mit der Vorstellung, dass es echte Feindschaft, Gemeinheit, sogar Bosheit gibt. Deshalb ist das Denken in Szenarien so wichtig. Es erlaubt, geistig durchzuspielen, was niemand erleben will. Nicht um es wahrscheinlicher zu machen – sondern um vorbereitet zu sein.
Abschreckung war früher auch ein ökonomisches Argument: Krieg lohnt sich nicht. Gilt das noch?
Nur sehr bedingt. Der ökonomische Rationalismus greift bei Akteuren wie Russland nicht. Es geht um Identität, geopolitisches Ego, um die Wiederherstellung verlorener Grösse. Das lässt sich mit einer Kosten-Nutzen-Rechnung nicht fassen. Russland ist wirtschaftlich angeschlagen – und trotzdem expandiert es militärisch, sogar im Mittelmeer. Warum? Weil es um symbolische Macht geht, nicht um materielle Effizienz.
Was bedeutet das für europäische Demokratien?
Dass wir lernen müssen, jenseits der wirtschaftlichen Bilanzen zu denken. Warum kämpfen Ukrainer, obwohl der Preis so hoch ist? Weil sie wissen, was auf dem Spiel steht: Identität, Freiheit und Geschichte. In der Sicherheitspolitik müssen wir solche Werte wieder ernst nehmen. Nicht nur rhetorisch, sondern in der Planung unserer gesellschaftlichen und militärischen Fähigkeiten. Sonst werden wir immer wieder überrascht – und zahlen einen hohen Preis dafür.