Manche Gegner der Abkommen verbreiten Unwahrheiten. Und der Bundesrat neigt zu Beschönigungsrhetorik. Eine Zwischenbilanz zur Europadebatte.

Olivier Matthys / EPA
Nun also der Cervelat. Wenn nichts mehr hilft, bleibt immer noch die Nationalwurst. Die Freunde der bilateralen Abkommen mit der EU versuchen seit neustem, mit einem wunderschön gebrätelten Cervelat Werbung für ihre Sache zu machen. Beim Anblick der Wurst auf der Startseite von «Stark und vernetzt», einer Allianz von Wirtschaftsverbänden, Firmen und Parteien, läuft einem sofort das Wasser im Mund zusammen.
Etwas länger dauert es, bis sich die Botschaft erschliesst. Mit dem europapolitischen Sichdurchwursteln der Schweiz hat es nichts zu tun. Nein: Eine «Extrawurst für die Schweiz» – genau dies sei der bilaterale Weg für das kleine Land mitten in Europa. Ob das reicht, um positive Lagerfeuerstimmung zu entfachen?
Der Griff ins Fleischregal sagt einiges darüber aus, wie die Schweiz über ihr Verhältnis zur EU diskutiert. Sie tut es intensiv und ausdauernd, sie verhandelt zwar mit der EU, vorwiegend aber mit sich selbst. Dabei verfügen die Gegner der bilateralen Abkommen über etwas, das dem Pro-Lager mit seinen oftmals kopflastigen Argumenten fehlt: einfache Botschaften, klare Bilder, eine eingängige Erzählung. National schlägt rational. Mit dem Cervelat möchten die Befürworter auch einmal den Bauch ansprechen.
Die Europadebatte ist spannender und gehaltvoller geworden, seit der Bundesrat vor anderthalb Monaten endlich die neuen Abkommen publiziert hat. Eine Zwischenbilanz erlaubt erste Rückschlüsse. Im Vergleich zum Rahmenabkommen, das vor vier Jahren gescheitert ist, verläuft der jetzige Prozess unter der Ägide des Aussenministers Ignazio Cassis nach wie vor weitgehend fahrplanmässig – was bei diesem dauerexplosiven Thema bereits eine beachtliche Leistung darstellt. Grössere Pannen sind ausgeblieben, Querschüsse und Indiskretionen aus dem Bundesrat ebenfalls. Auch nach der Publikation gab es bis anhin keine bösen Überraschungen.
Angebliche Zerstörung der Demokratie
An den Reaktionen war höchstens etwas erstaunlich: wie rasch und klar sich mehrere grosse Wirtschaftsverbände zu den Abkommen bekannten, nachdem sie einen klaren Positionsbezug lange vermieden hatten. Auch sonst haben sich die Fronten weiter geklärt. Die Linke will die Verträge praktisch geschlossen unterstützen – mit Ausnahme des Stromabkommens, das in der SP einen giftigen Streit ausgelöst hat. FDP und Mitte hingegen sind weiterhin grundsätzlich gespalten, versuchen aber, ihren Disput in Anstand auszutragen. Wie sich der Bauern- und der Gewerbeverband positionieren, bleibt spannend bis zuletzt.
Definitiv überraschungsfrei agiert die SVP: Sie setzt ihre Gegenkampagne fort und schreckt auch vor Falschaussagen nicht zurück. Dazu gehört das Gerede von der «automatischen» Rechtsübernahme, obwohl die Verträge sehr klar sind: Es gibt keinen Automatismus, ohne ausdrückliche Zustimmung der Schweiz in jedem einzelnen Fall wird gar nichts übernommen.
Die Irreführung geht weit. In der SVP-Logik würde die Annahme der Verträge die direkte Demokratie «zerstören». In der Realität aber wäre es weiterhin möglich, mit einer Volksinitiative die Ablehnung einer Rechtsübernahme oder die Kündigung der Abkommen zu verlangen. Im Vergleich zur SVP ist das Pro-Lager bis jetzt zurückhaltender unterwegs, wenngleich auch manche Befürworter unangenehme Aspekte gern verschleiern oder verschweigen.
«Immer Nein sagen»
Beunruhigender ist das Verhalten des Bundesrats. Zuständig sind neben Aussenminister Cassis vor allem Beat Jans und Guy Parmelin, der Migrations- und der Wirtschaftsminister. Sie sind wie Tag und Nacht: Der SVP-Mann Parmelin soll zwar loyal mitarbeiten, unterlässt aber jede klare Aussage für (oder gegen) die Verträge. Der Sozialdemokrat Jans hingegen sucht geradezu die Rolle des Vorkämpfers und agiert deutlich offensiver als der Freisinnige Cassis.
Nun ist aber der Bundesrat in seiner Kommunikation weniger frei, als es die SVP und andere politische Akteure sind. Das Gesetz verpflichtet ihn zu vollständiger, sachlicher und transparenter Information. Hält er sich daran? Bis jetzt fällt es ihm spürbar schwer, die negativen Aspekte der geplanten Abkommen – die vielzitierten Kröten, die es naturgemäss in jedem Staatsvertrag gibt – klar und offen zu benennen. Dieser Eindruck hat sich seit der Publikation der Vertragstexte noch verfestigt.
Die magistrale Beschönigungsrhetorik zeigt sich am deutlichsten bei dem Thema, bei dem die Gegner es am buntesten treiben: bei der Rechtsübernahme. Auch wenn diese nicht automatisch ablaufen wird, geht es um weit mehr als eine juristisch-technische Formalität. Die Veränderung ist handfest: Die Schweiz würde sich vertraglich verpflichten, künftig in allen Bereichen, in denen sie Teil des europäischen Binnenmarkts ist, neues EU-Recht zu übernehmen, das sie heute noch nicht kennt – von der Zuwanderung bis zum Strommarkt. Die Unterhändler haben wichtige Schranken und verbindliche Ausnahmen vereinbart, dennoch sollte man den Schritt nicht verniedlichen.
Bundesrat Jans tut es trotzdem. «Wir können immer Nein sagen», beschwichtigt er. Tatsächlich kann die Schweiz neues EU-Recht im Prinzip weiterhin ablehnen, auch das Referendum bleibt möglich. Gleichzeitig ist aber klar, dass dies nur in absoluten Ausnahmefällen eine Option sein kann. Der Zürcher Rechtsprofessor Matthias Oesch – beileibe kein Gegner der Abkommen – hat es im Interview mit der NZZ klar formuliert: «Eine dauerhafte Nichtübernahme wird nur ganz ausnahmsweise opportun sein, und sie wird einen Preis haben. Die EU könnte in solchen Fällen Ausgleichsmassnahmen ergreifen, die schmerzen.»
Mit anderen Worten: Wer – frei nach Jans – die Möglichkeit haben will, «immer» Nein zu sagen, sollte sich nicht auf die dynamische Rechtsübernahme einlassen.
«Hilfe» aus Süddeutschland
Auch das Aussendepartement von Ignazio Cassis neigt gelegentlich zur Verharmlosung. Vor wenigen Tagen hat es in einer Stellungnahme festgehalten, die dynamische Rechtsübernahme sei «im Interesse der Schweiz, ihrer Wirtschaft und ihrer Bürgerinnen und Bürger». Tatsächlich? Vor nicht allzu langer Zeit tönte das anders. Als der Bundesrat im Mai 2021 die Verhandlungen über den Rahmenvertrag beendete, zog er in einem Bericht Bilanz. Daraus geht in erfrischender Offenheit hervor, dass es sich bei der dynamischen Rechtsübernahme und der Streitbeilegung, die beide schon damals geplant waren, um «souveränitätspolitische Konzessionen» der Schweiz handelt. Heute fehlt diese Klarheit.
Stattdessen fällt vor allem der begeisterte Europäer im Bundesrat, der Basler Beat Jans, mit einer PR-Rhetorik auf, die mit der Realität nicht viel mehr zu tun hat als die entgegengesetzte Kampagne der SVP. Mitte Juni hat Jans die neuen Abkommen im «Sonntags-Blick» mit dem mythischen Rütlischwur verglichen: «ein gegenseitiges Versprechen in schwierigen Zeiten – mit Partnern, die gemeinsam vorwärtsgehen wollen». Offenbar glaubte Jans, der Vergleich sei überzeugend.
Zumindest einer scheint sich darüber gefreut zu haben: der deutsche EU-Parlamentarier Andreas Schwab. Wenige Tage nach Erscheinen des Interviews hat er dem Konstanzer «Südkurier» anvertraut, Jans sei der einzige Bundesrat, der sich für die Abkommen ins Zeug lege. Die anderen Bundesräte hätten «die Hosen voll». Der «Blick» nahm die Aussage auf – und die Empörung ihren Lauf. Andreas Schwab sieht sich als Freund der Schweiz. Offenbar glaubte er, seine Aussage sei hilfreich.
Der Bundesrat bewegt sich auf einem schmalen Grat. Während die Vertreter der EU gerne sähen, wie er für die Verträge weibelt, steht er im Inland unter genauer Beobachtung. Und dies nicht nur von der SVP: Ende Juli hat der Mitte-Ständerat Stefan Engler, ein freundlicher und bedächtiger Mann, einen Warnschuss abgefeuert. In einer Kolumne warf er Jans und Cassis vor, «Propaganda» zu betreiben. Bezeichnenderweise nahm er sich selbst die Freiheit heraus, in demselben Text, in dem er die beiden Bundesräte wegen Unsachlichkeit rüffelt, die Rechtsübernahme als «automatisch» zu bezeichnen.
Die Debatte über das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU wird weiter Fahrt aufnehmen, die Irreführung vermutlich auch. Den kleinsten Spielraum hat der Bundesrat. Er darf zwar die helvetische Extrawurst anpreisen und die Vorteile loben, die die neuen Verträge vom Handel bis zur Forschung mit sich bringen. Aber er müsste auch die Nachteile als das bezeichnen, was sie sind. Mit anderen Worten: Zusätzlich zu den Cervelats sollte der Bundesrat reinen Wein auftischen. Nüchtern wird die Diskussion sowieso nicht ablaufen.