DruckenTeilen
Eine Drohne mit Sprengstoff im Nato-Land Litauen sorgt für Diskussionen. Würde der Bündnisfall eintreten? Die Antwort ist komplexer als gedacht.
Berlin – Wie harmlose Modellflugzeuge sehen sie aus: Die rund zwei Meter langen Gerbera-Drohnen – kostengünstig aus Sperrholz und Schaumstoff zusammengezimmert – gelten seit Monaten als neues Rückgrat russischer Drohnen-Schwärme im Angriffskrieg gegen die Ukraine. Oft werden sie, bestückt mit Kameras, für Spähflüge genutzt. Immer wieder tauchen sie auch außerhalb des Kriegsgebiets auf. Zuletzt in Litauen.
Brisant: Eine vor wenigen Tagen im dortigen Truppenübungsgelände Gaiziunai bei Jonava im Zentrum des Landes abgestürzte Gerbera-Drohne hatte zwei Kilogramm Sprengstoff an Bord – war also eine potenziell tödliche Waffe. „Zwei Kilo Sprengstoff, das ist durchaus gefährlich“, sagt NATO-Experte Ulrich Kühn vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Uni Hamburg im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau von IPPEN.MEDIA.
Sprengstoff-Drohne aus Russland in Litauen: Was, wenn Menschen getötet werden?
Spezialkräfte der litauischen Armee hatten die Drohne, die mutmaßlich aus Belarus kommend in den Luftraum des baltischen EU– und Nato-Mitglieds eingeflogen war, deaktiviert. Zuvor hatten Einwohner der litauischen Hauptstadt Vilnius das Flugobjekt gesichtet und gemeldet. Ein direkter Angriff durch Putin? Wohl eher nicht, die wahrscheinlichste Version nach Angaben der litauischen Armee: Möglicherweise wurde die Drohne von der ukrainischen Luftabwehr abgelenkt. Ein Versehen also.
Nur: Was, wenn eine solche Drohne im Natogebiet explodiert – und Menschen verletzt oder gar tötet? Tritt dann der Bündnisfall ein? Die Nato-Mitgliedstaaten wären dann zur kollektiven Verteidigung verpflichtet. Ein Szenario, das manche als Beginn eines Dritten Weltkriegs definieren. Aber: „Der Nato-Bündnisfall ist kein Automatismus“, stellt Experte Kühn klar.
Klares Protokoll: „Wenn Nuklearwaffe in Norwegen explodiert, ist das nicht automatisch ein Bündnisfall“
Tatsächlich folgt die Feststellung des Nato-Bündnisfalls einem klar definierten Protokoll. Im ersten Schritt tritt der Nordatlantikrat zusammen, jedes Nato-Land hat darin einen Sitz. Der Rat entscheidet, ob ein Bündnisfall vorliegt oder nicht. „Überspitzt gesagt: Wenn die Russen eine Nuklearwaffe in Norwegen explodieren, dann ist das nicht automatisch der Bündnisfall, solange die Mitgliedstaaten ihn nicht als solchen definieren“, so Kühn.
Neuer Newsletter „Unterm Strich“
Was? Exklusive Einblicke in den Politik-Betrieb, Interviews und Analysen – von unseren Experten der Agenda-Redaktion von IPPEN.MEDIA
Wann? Jeden Freitag
Für wen? Alle, die sich für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft interessieren
Wo? Direkt in ihrem E-Mail-Postfach
Wie? Nach einer kurzen Registrierung bei unserem Medien-Login USER.ID hier kostenlos für den Newsletter anmelden
Darüber hinaus kann jedes Land selbst entscheiden, ob und wie es den Nato-Partner unterstützt, also etwa auch durch Waffenlieferungen oder Hilfsgütern. Heißt: Niemand muss Truppen schicken. Was heißt das nun für die Drohne in Litauen? „Wenn die Drohne vor der Hauptkathedrale in Vilnius explodiert wäre und 20 Menschen getötet hätte, dann wäre das in der Tat extrem kritisch“, sagt Kühn. „Dann laufen erst mal die Drähte nach Moskau heiß und man würde fragen: War das Absicht? Und wenn ja: Seid ihr verrückt?“
Drohne in Litauen: Versuchter Angriff durch Putin?
Von einem absichtlichen Angriffsversuch geht Kühn allerdings nicht aus: „Das würde Russland aktuell sicher nicht machen.“ Und doch: Litauens Regierung wandte sich nach dem Drohnen-Fund an Nato-Generalsekretär Mark Rutte mit der Bitte um „sofortige Maßnahmen zur Verbesserung der Luftverteidigungsfähigkeiten in Litauen“. Die zunehmende Häufigkeit ähnlicher Vorfälle stelle eine Bedrohung für die Sicherheit Litauens und des gesamten Bündnisses dar, schrieben Außenminister Kestutis Budrys und Verteidigungsminister Dovile Sakaliene in einem gemeinsamen Brief.
Dabei sei aber vor allem symbolisch zu verstehen, so Kühn. „Die Litauer wollen zurecht das Gefühl haben: Unseren Bündnispartnern ist es nicht egal, was hier passiert.“