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Kurz davor oder schon mittendrin? Um einen Atomkrieg wird die Welt womöglich herumkommen – aber die Alternative ist beileibe kein Grund zur Beruhigung.

Dresden – „Strategisch bleibt der Kreml entschlossen, die Ukraine zu unterwerfen und sie an einer Annäherung an den Westen zu hindern, bis sie wieder in Russlands Einflussbereich eingegliedert werden kann“, schreiben Max Bergmann und Maria Snegovaya. Die Autoren des US-Thinktanks „Center for Strategic and International Studies“ (CSIS) legen in ihrer Analyse dar, dass Wladimir Putin mit dem Ukraine-Krieg ohne Wenn und Aber über Russlands Grenzen hinauswachsen will – möglicherweise sogar unter Inkaufnahme des Dritten Weltkrieges. Wie der aussehen könnte, berichtet Jens Ulrich Eckhard bei der Welt: „Was nach einem Angriff passiert, bevor Hunderttausende ,in einer Millisekunde verdampfen‘, malen Offiziere der NATO in konkreten Szenarien aus.“

Zwei Soldaten verlassen rennend eine Fähre während einer Landungsübung.

Falsches Bild vom Krieg? Vom schnellen Vormarsch konventioneller Invasionstruppen ist genauso oft die Rede wie von taktischen Atomschlägen. Manche Analysten verorten den Dritten Weltkrieg aber auch im Cyberspace und wähnen die westlichen Länder schon mittendrin. Die Aufnahme zeigt Soldaten der NATO und befreundeter Länder während einer Landungsübung im Juni im westfranzösischen Plouhinec während der Operation POLARIS 25. © Loic Venance / AFP

In „Das ABC der Apokalypse“ habe der Historiker Armin Wagner die Literaturgeschichte des Vorlaufs des Jüngsten Tages zusammengetragen, rezensiert der Autor der Welt. In der Übersicht wird auch die vom ehemaligen Direktor des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr in Dresden als solche bezeichnete „Schaukelpolitik“ der Bundesregierung angesprochen – bis hin zu einer klaren Schuldzuweisung in Richtung der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Der Buchautor wirft ihr in den Worten des Historikers Jan Claas Behrends bezüglich „Nord Stream 2“ vor, „zum Komplizen der negativen Ukrainepolitik Putins“ geworden zu sein, was einem kommenden globalen Krieg womöglich Vorschub geleistet haben könnte. Wie Thomas Urban im Magazin Cicero geschrieben hat, sehe sich Putin von der Vorsehung dazu auserwählt, das russische Imperium wiederherzustellen.

Dritter Weltkrieg: Viele würden ihn zunächst nicht erkennen

Bereits Ende vergangenen Jahres berichtete Newsweek, dass beispielsweise Bruno Kahl davon ausgehe, Russland treffe die Vorbereitungen für einen Krieg mit dem Westen, wie der Präsident des Bundesnachrichtendienstes gegenüber dem Magazin geäußert hatte. Dabei gingen NATO-Offiziere grundsätzlich von zwei Szenarien aus: einem von Feuergefechten geprägten und einer umfassenden Kampagne zur Destabilisierung des Miteinanders der Partner innerhalb der westlichen Verteidigungsallianz. „Die meisten von uns werden wahrscheinlich nicht erkennen, dass wir uns in einem globalen Konflikt befinden – zunächst“, behauptet beispielsweise das Magazin The Week. Eine Ansicht, die viele Analysten teilen – auch manche Militärs.

Historiker Wagner zitiert beispielsweise den früheren NATO-Oberbefehlshaber in Europa. Richard Shirreff sei in seinem Buch „2017 – War with Russia“ davon ausgegangen, dass nach Cyberangriffen auf das Baltikum dort auch konventionell nachgestoßen würde. Als Antwort würde der Westen einen ebenfalls konventionellen, aber letztendlich erfolgreichen Gegenangriff geführt haben. Wagner vergleicht Shirreffs Werk mit dem 1978 erschienenen Roman „Der Dritte Weltkrieg“ des ehemaligen britischen Generals Sir John Winthrop Hackett, der die Gefechte mit Russlands Landstreitkräften in Mitteleuropa verortet hat. Auch in Hacketts Szenario behält die NATO nach heftigen Gefechten mit einem Schwerpunkt rund um Krefeld letztendlich auch konventionell die Oberhand und schlägt Russland zurück. Welt-Autor Jens Ulrich Eckhard sieht die Rolle von Atomraketen in seiner Gesamtbetrachtung der literarischen Ansätze demnach eher als „Psychowaffe“, wie er ausführt:

„Wie bei Hackett gut 40 Jahre zuvor, werden bei Shirreff Nuklearwaffen vornehmlich als Mittel zur politischen Erpressung eingesetzt. Entsprechend bleibt es bei der allgegenwärtigen Drohung des Kremls, bei einem Rückeroberungsversuch der baltischen Staaten den Erstschlag auszuführen.“ Momentan sieht sich Russland offenbar trotz aller Verluste konventionell noch bestens gerüstet – und sucht sein Heil vielleicht künftig eher in der Drohung mit Shahed-Drohnen. Von Atomwaffen ist die Rhetorik des Kreml in jüngster Zeit frei geblieben. Heather Williams vom CSIS verweist auf eine Studie des Instituts von Anfang 2024, nach der russische Politiker in mehr als 200 Fällen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine auf den Einsatz von Atomwaffen verwiesen hätten.

Putins Verbündete: Diese Länder stehen im Ukraine-Krieg an der Seite Russlands

Russlands Präsident Wladimir Putin bei einem Treffen der Gemeinschaft unabhängiger Staaten

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Einen Zusammenbruch der russischen Armee in der Ukraine bezeichnen die Verfasser der Studie als unwahrscheinlich und sehen „keinen Grund, in naher Zukunft mit einer nuklearen Eskalation zu rechnen“, wie sie schreiben. Laut Heather Williams spielt Putin lediglich auf Zeit mit seinem „nuklearen Mobbing“ und sucht darin seinen Erfolg, wie sie vermutet. Was in einem Waffengang mit der NATO ganz anders aussehen könnte. Wobei der Funke des Dritten Weltkriegs vielen Meinungen zufolge auch weit außerhalb der Ukraine oder des Baltikums zünden könnte: Der Konflikt um Taiwan oder die Randerscheinungen um den Krieg in Israel herum haben ebenfalls das Potenzial, sich zum Weltenbrand auszudehnen. Von den schwelenden Differenzen zwischen Indien und Pakistan ganz zu schweigen.

Analystin: Dritter Weltkrieg hat bereits begonnen

Systemverändernde Konflikte mit einer Vielzahl beteiligter Länder“ bezeichnet Fiona Hill das Szenario eines „nächsten Krieges“. Beziehungsweise des „laufenden Krieges“, wie der Guardian die Politikanalystin und Beraterin der britischen Regierung zitiert: Hill sei überzeugt, „dass der Dritte Weltkrieg bereits begonnen habe, wenn wir es nur erkennen würden“, formuliert Patrick Wintour. „Dass unter chinesischer Flagge fahrende Trawler mit Russen an Bord Unterseekabel in der Ostsee zerreißen, ist nur ein Teil von Wladimir Putins globalem Krieg“, so der Guardian-Autor. Das Blatt schreibt von einem „unkontrollierbaren Abdriften“ in Richtung des Tages des Jüngsten Gerichts. Dazu trüge das Verhalten der USA seinen Teil bei.

Wintour sieht als ein Zeichen dafür den Zusammenbruch der „Pax Americana“ – des „Langen Friedens“, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs für mehrere Jahrzehnte relativen Frieden und wachsenden Wohlstand unter US-amerikanischer Führung garantiert hat. „Die Verflechtung der Konflikte, die neue Bereitschaft zu ungezügelter staatlicher Gewalt und die Bedeutungslosigkeit der Institutionen der regelbasierten Ordnung“, all das sieht Wintour bröckeln – und damit unausgesprochen ein Ende der Zeit, in der ein Krieg mittels ausgetauschter Depeschen formal erklärt würde. Auch der Ukraine-Krieg war ja eher ein Versehen beziehungsweise ein Versagen der Militärs, die sich mit einem handstreichartig ausgeführten militärischen Manöver der Einnahme Kiews sicher wähnten.

Der Titel „Spezialoperation“ ist insofern treffend für das, was sich auch im Indopazifik ereignen, beziehungsweise, was sich zwischen Israel und dem Iran hätte ereignen können – mit entsprechend katastrophalen Auswüchsen. So, wie jetzt in der Ukraine. Richard Overy begründet im britischen Telegraph sogar, warum es zu spät sei, den Dritten Weltkrieg zu verhindern: Der Historiker hatte schon Mitte 2024 gemutmaßt, dass „Invasionstruppen“ für viele Nationen ein Mittel sein könnten eine schnelle Lösung zu realisieren, anstatt auf eine länger dauernde politische Lösung zu setzen – und eben damit ein viel größeres Dilemma provozieren. Laut Overy wäre ein Krieg auch denkbar, ohne dass ein einziger Soldat in Marsch gesetzt würde.

Dritter Weltkrieg würde anders aussehen als bisherige Kriege

Er denkt an die wachsende Entfremdung westlicher Demokratien und autoritärer Staaten Eurasiens, wie er im Telegraph auszugsweise aus seinem Buch „Why War?“ schreibt. Anders als in vorherigen Jahren beziehungsweise Jahrhunderten kann Krieg inzwischen ohne Pulver oder Kernschmelze geführt werden. Auch Buchautor Wagner hatte in diese Richtung gedacht. Die in früheren Jahren wichtige Unterscheidung der nicht-konventionellen Waffen in ABC, also atomar, biologisch, chemisch, sei überholt: Das „C“ stünde mittlerweile für „Cyber“ zitiert ihn Jens Ulrich Eckhard in der Welt. Und auch Richard Overy schreibt im Telegraph, dass Konflikte eskalieren könnten, selbst wenn die Kontrahenten den offenen Krieg vermieden:

Dabei „besteht die Möglichkeit, dass die Zerstörung der Satellitenkommunikation die militärische und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der anderen Seite untergräbt“. (Quellen: Center for Strategic and International Studies, Welt, Cicero, Newsweek, The Week, The Guardian, The Telegraph) (hz)