Der Strom ist zu teuer: das ist mittlerweile eine Klage, die man bis in die Führungsschicht der europäischen Politik hört. „Über Gas hinaus sind auch andere Teile der Energierechnungen zu hoch“, hielt Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, in ihrem am Montag verschickten Brief an die Staats- und Regierungschefs vor dem Europäischen Ratstreffen am Donnerstag in Brüssel fest. „Steuern, Abgaben und Gebühren haben sich im vergangenen Jahr für die Industrie und die Haushalte erhöht.“

Kaum jemand bringt noch das (grundsätzlich richtige) Argument vor, dass hohe Strompreise Anreize für Effizienzsteigerungen schaffen. Die Grüne Wende, welche die EU trotz aller Schwierigkeiten weiterhin erreichen will, setzt die umfassende Elektrifizierung aller Lebensbereiche voraus. Wo mehr Bedarf, da steigt der Preis. Und das ist ein Problem für besagte Grüne Wende, warnt von der Leyen: „Wie wir alle wissen: die Elektrifizierung sollte im Kern unserer Wettbewerbsfähigkeit, Energiesicherheit, und Klimaziele stehen.“

Ein Kollege merkte in diesem Zusammenhang dieser Tage an, dass Ungarn die niedrigsten Strompreise in der EU habe. Bei aller Kritik an seiner Regierungsweise mache Ministerpräsident Viktor Orbán hier offenbar etwas richtig.

Ich suchte die einschlägigen Zahlen von Eurostat auf. In der Tat: in der ersten Jahreshälfte 2025 bezahlten die ungarischen Haushalte den niedrigsten Strompreis von allen EU-Staaten. Rund 8,2 Cent pro Kilowattstunde waren das: ein Drittel des durchschnittlichen Preises in Österreich.

Woran liegt das? Ich fragte einen der profiliertesten Kenner der europäischen Energiepolitik, Georg Zachmann vom Brüsseler Forschungsinstitut Bruegel. In der Tat seien die Strompreise für ungarische Haushalte um rund 64 Prozent niedriger als im Mittelwert der Union. „Großhandelsstrompreise in Ungarn sind aber ähnlich hoch wie in anderen EU-Staaten“, gab er zu bedenken.

Nicht nur ähnlich hoch, sondern höher als in fast allen EU-Staaten. Im ersten Halbjahr mussten Unternehmen in Ungarn die dritthöchsten Stromkosten der EU zahlen, zeigen die Eurostat-Daten. Nur in Kroatien und Irland war Strom für Betriebe teurer.

Das erklärt sich unter anderem damit, dass die Netzkosten in Ungarn kaum von Haushaltskunden getragen werden, gibt Zachmann zu beenken. Eine Anomalie, wie er betont: „In der EU bezahlen Haushaltskunden im Schnitt mehr als doppelt soviel wie Nicht-Haushaltskunden (was teilweise Sinn macht, da kleine Kunden viel mehr Kosten pro kWh verursachen), während in Ungarn Nicht-Haushaltskunden sogar 50 Prozent mehr als Haushaltskunden bezahlen.“ Sein Nachsatz: „Das ist eine politische Wahl.“

Klar. Wer den Bürgern billige Stromrechnungen per Gesetz garantiert, wie Orbán das seit dem Jahr 2012 tut, kann sich ihres Zuspruchs gewiss sein. Die Ersparnis der Stromkunden im Jahr 2014 allein entsprach rund 0,63 Prozent der ungarischen Wirtschaftsleistung. Bei den Parlamentswahlen im April des Jahres erreichte Orbáns Partei Fidesz die Verfassungsmehrheit.

Die Kehrseite dieser Medaille sind die hohen Stromkosten für Unternehmen – und ein Leitungsnetz, das immer öfter Schwierigkeiten hat, starke Spannungssschwankungen auszugleichen. Die nehmen zu, weil Ungarn seit dem Jahr 2018 den Ausbau von Solarenergie forciert. Rund zehn Prozent der Stromproduktion kommen aus der Photovoltaik. Doch das hat den ungarischen Strommarkt anfällig für spekulative Attacken gemacht. Die politische motivierte Ablehnung von Windkraft erleichtert den Spekulanten das Geschäft: Wind kann es auch an bewölkten Tagen geben. Doch wenn die Sonne scheint, liefern Photovoltaikanlagen stets Strom.

Kurzum: der ungarische Weg, niedrige Preise für Privatkunden durch hohe für Geschäftskunden querzusubventionieren, hat seine Kosten. Irgendjemand muss letztlich für den Netzausbau zahlen. Und der kostet, wenn man die Elektrifizierung Europas will.

Insofern sendet von der Leyen in ihrem Brief an die EU-Chefs eine widersprüchliche Botschaft. Einerseits sollten die Mitgliedstaaten selbst ihre Steuern und Abgaben auf Strom senken, mahnt sie. Andererseits verspricht sie unter dem Schlagwort „Energy Highways“, acht Nadelöhre in den europäischen Hochspannungsnetzen zu beseitigen. „Und wir werden ein neues Netzpaket vorlegen, um unsere Netzinfrastruktur zu stärken“, versprach sie.

Wer soll das bezahlen? Die Antwort darauf blieb von der Leyen schuldig. Mein Tipp: letztlich Sie, ich, wir alle – über Netzentgelte, oder Steuern.