Schweizer Gaza-Rettungsaktion –

«Ein Junge fragte mich, ob das Flugzeug Raketen habe»

Ein verletzter Junge wird auf einer Trage von Sanitätern am Flughafen Zürich zum Krankenwagen gebracht. Symbol der humanitären Operation zur Evakuierung verletzter Kinder aus dem Gazastreifen, Basel Schweiz.

Für die kranken Kinder aus Gaza, die am Freitag mit der Rega in die Schweiz transportiert wurden, war es der erste Flug in ihrem Leben überhaupt.

Foto: Michael Buholzer (Keystone)

Am Freitag sind sieben schwer verletzte Kinder aus dem Gazastreifen in der Schweiz angekommen – begleitet von ihren Familien, Schweizer Behördenmitgliedern und Mitarbeitenden von Ärzte ohne Grenzen. Célia Burnand, Einsatzleiterin der Organisation, war bei der Evakuation dabei. Im Interview erzählt sie, wie die Rettungsaktion ablief – und was die Kinder bei der Ankunft in der Schweiz als Erstes wissen wollten.

Mehrere Flugzeuge mit Familien aus Gaza sind in der Schweiz gelandet. In welcher Maschine waren Sie, Frau Burnand?

Ich war an Bord eines der Passagierflugzeuge, die parallel zu den medizinischen Flügen der Rega unterwegs waren. In meinem Flug befanden sich die Eltern und Geschwister der Kinder, die evakuiert wurden. Die sieben verletzten Kinder selbst waren auf die medizinischen Rega-Flüge verteilt. Ich kenne sie aber gut, weil ich sie seit ihrer Ankunft in Jordanien begleitet habe.

Wie kamen die Familien von Gaza nach Jordanien?

Die Familien verliessen Gaza am Dienstagabend. Nach medizinischen Untersuchungen in einem örtlichen Spital wurden sie am nächsten Morgen von Angestellten der Weltgesundheits­organisation über Israel zur Allenby-Brücke im Westjordanland gebracht. Dort haben wir sie gemeinsam mit Vertretern der Schweizer Botschaft und des Humanitären Korps in Empfang genommen.

In welchem Zustand waren sie?

Als sie an der jordanischen Grenze ankamen, waren sie völlig erschöpft und verängstigt. Viele hatten nicht verstanden, wohin sie gebracht würden. Wir versuchten, sie zu beruhigen, zu informieren, ihnen das Gefühl von Sicherheit zu geben. Wir fuhren gemeinsam in die jordanische Hauptstadt Amman, wo die meisten in einem Hotel übernachteten. Am nächsten Tag folgten weitere medizinische Untersuchungen, um sicherzustellen, dass alle für den Flug in die Schweiz stabil waren. Zwei Kinder und ein Vater mussten in Amman hospitalisiert werden, weil ihre Verletzungen zu schwer waren.

«Eine knallende Tür genügt, um die Kinder in Panik zu versetzen.»

Alle anderen konnten im Hotel übernachten?

Ja, sie wurden im Hotel medizinisch betreut. Viele Kinder tragen schwere Kriegsverletzungen: zertrümmerte Knochen, Wunden durch herumfliegende Metallsplitter, durch Schüsse. Manche können noch laufen, andere kaum. Fast alle zeigen Anzeichen von Trauma – schon ein lautes Geräusch wie eine knallende Tür genügt, um sie in Panik zu versetzen. Das Hotelpersonal in Amman bereitete ihnen aber einen überwältigend herzlichen Empfang.

Inwiefern?

Als die Hotelangestellten erfuhren, dass ihre Gäste Gaza entflohen waren, brachten sie spontan Schokolade und andere Süssigkeiten. Wir mussten die Angestellten sogar ein bisschen bremsen. Wir baten sie freundlich, vorsichtig zu sein – die Familien waren mangelernährt, zu viel Zucker auf einmal hätte ihnen nicht gutgetan.

Wie haben die Kinder und Familien reagiert, als es darum ging, ein Flugzeug in die ferne Schweiz zu besteigen?

Viele Kinder waren aufgeregt. Wir versuchten, sie mit Lächeln und sanften Worten zu beruhigen, jede Turbulenz mit einem «Alles ist gut» abzufedern. Diese kleinen Gesten machten einen grossen Unterschied. Es war für viele das erste Mal, dass sie ein Flugzeug aus der Nähe sahen – und bisher waren Flugzeuge für sie ein Zeichen des Schreckens. Ich erinnere mich an einen kleinen Jungen, der mich fragte, ob das Flugzeug Raketen habe. Wir erklärten ihm, dass es sich um eine zivile Maschine handle, die ihn in Sicherheit bringe.

Frau mit lockigen, roten Haaren lächelt in die Kamera, trägt ein grünes Hemd, steht vor einer verschwommenen Treppenkulisse.

Célia Burnand leitet bei Ärzte ohne Grenzen die Einsätze bei den medizinischen Evakuierungen. Die studierte Soziologin arbeitet seit mehreren Jahren in der humanitären Hilfe und im Bereich öffentliche Gesundheit.

Foto: PD

Was war die grösste Herausforderung während des Flugs?

Aus meiner Sicht als Einsatzleiterin von Ärzte ohne Grenzen bestand die Hauptaufgabe darin, Ruhe auszustrahlen, egal, was geschah. Das war besonders wichtig, da einige Familien getrennt flogen – etwa wenn ein Elternteil das kranke Kind auf einem medizinischen Flug begleitete, während der andere mit den Geschwistern im Passagierflug sass. Wir sorgten dafür, dass sie sich vor dem Abflug verabschieden konnten und sich nach der Landung sofort wiedersahen. Wir haben uns auch um Passagiere gekümmert, die reisekrank wurden.

Gab es hoffnungsvolle, freudvolle Momente?

Besonders eindrücklich war der Abflug. In meinem Flugzeug herrschte eine eigentümliche Stimmung – eine Mischung aus Anspannung und Erleichterung. Wir wussten alle, dass wir ins Ungewisse aufbrachen, und doch lag ein Gefühl in der Luft, endlich in Sicherheit zu sein. Ich erinnere mich an eine Mutter, die sich während des Fluges plötzlich sichtlich entspannte – als würde sie zum ersten Mal seit langem wieder durchatmen können. Das war ein stiller, sehr schöner Moment. Berührend war auch das Schicksal einer jungen Mutter, die nur mit ihrer zweijährigen Tochter reiste – ihr Mann und vier Kinder waren getötet worden. Oder der junge Patient, der nur noch seinen Onkel und Cousin hat.

«Das Wichtigste ist Zeit – Zeit zum Erklären, Zuhören, Vertrauen aufbauen.»

Wie reagierten die Familien bei der Ankunft in der Schweiz?

Die Kinder wollten sofort wissen, ob sie bald wieder zur Schule gehen könnten. Denn in Gaza hatten sie seit gut zwei Jahren keinen Unterricht gehabt. Bei den Erwachsenen war eine Mischung aus Erleichterung und Wehmut spürbar. Ein Vater sagte mir: «Die Schweiz ist grossartig, aber das schönste Land ist Gaza, ist Palästina.» Er war dankbar für die Hilfe, aber er würde lieber in seiner Heimat in Frieden leben.

Was ging Ihnen bei der Ankunft durch den Kopf?

Mir und anderen, die die Familien von Jordanien bis in die Schweiz begleitet hatten, fiel der Abschied nach der Ankunft schwer. Doch wir wussten, dass die Familien nun in guten Händen sind. Die Übergabe an die Schweizer Kantonsbehörden und Spitäler verlief reibungslos.

Was haben Sie mit Blick auf die nächsten Rettungsflüge im November gelernt?

Das Wichtigste ist Zeit – Zeit zum Erklären, Zuhören, Vertrauen aufbauen. Diese Familien haben unvorstellbare Gewalt erlebt. Man muss ihnen Schritt für Schritt vermitteln, dass sie nun in Sicherheit sind. Dafür sind Übersetzer, psychologische Unterstützung und gute Koordination zwischen allen Beteiligten entscheidend. Es war eine komplexe Operation, bei der alles stimmen musste: von der Grenzüberquerung bis zur Übergabe in den Schweizer Spitälern. Die Zusammenarbeit zwischen Ärzte ohne Grenzen, den Bundes- und Kantonsbehörden, der Schweizer Botschaft, der Weltgesundheitsorganisation und der Rega hat aber hervorragend funktioniert.

Humanitäre Aktion der Schweiz in Gaza

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