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Die Verteidiger erklären, dass sie Putins neue Vorzeige-Rakete kleinkriegen könnten – der NATO also Sicherheit bescheren. Wenn Trump helfen wollte.
Kiew – „Wir können kurz und bündig sagen, dass einer der drei Oreschniks erfolgreich auf russischem Territorium bei Kapustin Jar zerstört wurde …“, sagt Vasyl Maliuk. So zitiert Reuters den Chef des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU (Sluschba bespeky Ukrajiny). Laut der Nachrichtenagentur hätten die Verteidiger im Ukraine-Krieg Wladimir Putins großspurig angekündigten Schrecken der Welt schon frühzeitig in die Schranken verwiesen – 2023 sei die Operation erfolgreich verlaufen. Also rund ein Jahr nach Kriegsausbruch; und lange, bevor Putin eine Attrappe dieser Waffe auf die Ukraine losgelassen hat.

Momentaufnahme aus dem August: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (links) spricht, während der französische Präsident Emmanuel Macron und US-Präsident Donald Trump zuhören. Eines der drängendsten Themen der überfallenen Nation: Nachrüstung mit Tomahawk-Marschflugkörpern. Die Bekanntgabe des Erfolgs gegen russische Oreschnik-Raketen mag dazu dienen, Trump auf die Seite der Ukraine zu ziehen (Archivfoto). © Andrew Caballero-Reynolds/AFPPutin von Panik befallen? Russland weitet mit neuen Waffensystemen Angriffsfähigkeiten aus
Putin sei von Panik befallen, hat Wolodymyr Selenskyj Ende 2024 geäußert. Der ukrainische Präsident beantwortete damit die Raketen-Offensive auf die Ukraine mit der für die Welt neuartigen Waffe. Wie Reuters berichtete, hätte der russische Präsident in einer Fernsehansprache gesagt, Moskau habe eine ukrainische Militäreinrichtung mit einer neuen hyperschallschnellen Mittelstreckenrakete namens 9M729-„Oreschnik“ (zu Deutsch etwa: Hasel/Haselnussstrauch) angegriffen und gewarnt, dass weitere Raketen dieses Typs folgen könnten. Reuters zufolge wolle er Zivilisten künftig vor solchen Angriffen warnen. Die Rakete sei mit Übungssprengköpfen versehen gewesen, da keine Explosionen nach dem Aufschlag erfolgt seien. Neben der Ukraine habe Putin offenbar auch die NATO ins Bild setzen wollen, wozu Russland technisch fähig sei.
Gegenüber dem Sender Suspilne behauptete der ukrainische Präsident daraufhin, Russland würde die Ukraine als Übungsgelände nutzen und für seinen aggressiven Imperialismus ständig nach neuen Waffensystemen suchen. „Und wie ängstlich er ist! So ängstlich, dass er bereits neue Raketen einsetzt. Und er sucht weltweit nach weiteren Waffenquellen: im Iran, in Nordkorea. Heute wurde eine neue russische Rakete vorgestellt. Alle Eigenschaften – Geschwindigkeit, Flughöhe – entsprechen denen einer Interkontinentalrakete“, sagte der Präsident laut dem Sender. Der mit der Interkontinentalrakete Oreschnik durchgeführte Angriff hat definitiv eine neue Dimension russischer Angriffsfähigkeiten verdeutlicht – aber wird das der NATO gefährlich? Experten streiten.
„Er sagte gegenüber Reuters, Kiew unterstütze Trumps Friedensvorschläge und Russland müsse maximalem Druck ausgesetzt werden, um es zum Frieden zu bewegen. Die Stärkung der ukrainischen Feuerkraft auf große Entfernungen würde Moskau dazu bewegen, den Krieg in der Ukraine zu beenden.“
Die Ukrainska Prawda mutmaßt, die Rakete sei abgefeuert worden vom Testgelände Kapustin Jar im russischen Bezirk Astrachan. Bis zum Ziel Dnipro hat die Rakete also 1000 Kilometer zurückgelegt. Sie könnte vom dortigen Standort aus mindestens das rund 3800 Kilometer entfernte Paris erreichen oder fast sogar das rund 5500 Kilometer entfernte Lissabon. Kapustin Jar liegt im Verwaltungsbezirk Astrachan beziehungsweise Wolgograd und teilweise auf dem Territorium von Kasachstan – das russische Raketentestgelände ist von Kiew ungefähr 800 Kilometer Luftlinie entfernt. Die von der Ukraine jetzt veröffentlichten Angaben habe Reuters keiner objektiven Prüfung unterziehen können, teilt die Nachrichtenagentur mit. Aber die Ukraine hätte damit erneut ihre Fähigkeiten zu Schlägen über lange Distanzen hinweg bewiesen.
Comeback der Atomwaffen-Tests: die nukleare Bedrohung kehrt zurück

Fotostrecke ansehenPutins neue Oreschnik-Rakete bald vor der NATO-Ostflanke stationiert?
Auf jeden Fall verdeutliche der Start der Oreschnik beziehungsweise die Realisierung einer solchen Waffe „die neue Verwundbarkeit des Westens“, wie die französische Tageszeitung Le Monde nach dem russischen Raketenüberfall geschrieben hat. Deren Autoren Chloé Hoorman und Elise Vincent berichteten von Putins Drohung, Russland könne Oreschnik-Raketen bis Mitte 2025 in Belarus stationieren; Grundlage sei ein Vertrag, der am 6. Dezember 2024 mit Minsk unterzeichnet worden war. „Am 19. Dezember, während seiner traditionellen Jahresendpressekonferenz, forderte Putin sogar ein ‚technologisches Duell‘ zwischen seiner Oreschnik-Rakete und westlichen Verteidigungssystemen“, so Le Monde. Wie die türkische Nachrichtenagentur Anadolu jetzt berichtet, habe der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko Ende September bestätigt, dass sich Oreschniks auf dem Weg zur Stationierung befänden.
Laut Reuters sollen die Raketen im Dezember in Belarus stehen. Mit der jetzt veröffentlichten Mitteilung der Ukraine habe sich das Land offenbar schon sehr frühzeitig aus der Schockstarre ob der neuen Bedrohung gelöst – mit selbstverständlich anderen Methoden, als der Westen dazu in der Lage wäre – mit militärischer Gewalt. Zudem behaupten die Le-Monde-Autoren Hoorman und Vincent, dass der Westen von der Waffe ohnehin überrascht worden sei, weil sie offenbar im Schatten zu den offiziell zum russischen Arsenal zählenden Waffen entwickelt worden war. „Die Entwicklung von Mittelstreckenraketen war zudem bis 2019 verboten, als Moskau und Washington aus dem INF-Vertrag (Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty, also: Vertrag über nukleare Mittelstreckenwaffen) austraten, der seit dem Kalten Krieg das Wettrüsten in Europa beenden sollte“, so Le Monde.
Wie der US-Thinktank „Institute for the Study of War“ (ISW) bereits parallel zur Unterzeichnung der Kooperation der beiden Verbündeten geschrieben hat, könnte die Oreschnik zum Zankapfel zwischen Lukaschenko und Putin werden. Angesichts dessen hat sich Maria Tril sogar getraut zu behaupten, „Putins Raketenpräsentation stellt eine Fortsetzung psychologischer Kriegstaktiken dar, keine bedeutende militärische Eskalation“, wie sie in der Euromaidan Press mit Bezug auf die ISW-Analyse schreibt. Die ISW-Analysten gehen kritisch um mit Russlands technischen Möglichkeiten eines Raketenangriffs. Sie bewerten beispielsweise ein Interview des russischen Außenministers Sergej Lawrow mit US-Journalisten nach dem November-Angriff als Versuch „Russlands Bereitschaft darzustellen, mit allen Mitteln eine strategische Niederlage Russlands durch den Westen zu verhindern“, so das ISW.
Russlands Militärbasen sind im Ukraine-Krieg zunehmend verwundbar
Neben den Fehlversuchen mit der Oreschnik, die wohl auch Tote auf dem Testgelände gefordert hatten, legt die Veröffentlichung des erfolgreichen ukrainischen Angriffs auch die Verwundbarkeit der russischen Raketenbasen offen. Russland liegt mit seinen vorgeschobenen Silos, vor allem in Belarus, in Reichweite der ukrainischen Abwehr. Und jeden Tag werden die ukrainischen Marschflugkörper technisch ausgereifter. Möglicherweise wird auch der belarussische Präsident aufmüpfiger – vor allem, je länger die Ukraine ihrem Widersacher Wladimir Putin zu widerstehen imstande ist. Wie das ISW über den Vertragsabschluss beider Verbündeter berichtet, wolle Lukaschenko die Hoheit über den Einsatz der auf seinem Territorium stationierten Raketen behalten, selbst wenn die von russischem Personal bedient würden.
„Vermutlich um die Souveränität von Belarus innerhalb des Unionsstaates zu sichern und seine Verhandlungsposition gegen eine weitere Integration in den Unionsstaat zu stärken“ so das ISW. Dessen Analysten gehen davon aus, dass Russland generell zu viel Budenzauber um die Oreschnik-Rakete gemacht habe – das ISW rechnet damit, dass die ständige öffentliche Zurschaustellung der Waffe tatsächlich eher Effekthascherei geschuldet sei, als der Kommunikation von tatsächlichen Tiefschlag-Fähigkeiten, die Russland vorher gefehlt hätten. Dafür, so das ISW verfügte das russische Regime auch und vor allem in Kaliningrad über bekannte Waffen, die die NATO sowie die Ukraine schon länger bedrohen und zudem teilweise sogar bereits im Ukraine-Krieg auf ihre Fronttauglichkeit getestet worden seien: atomwaffenfähige Iskander-Raketen, Kinschal-Hyperschallraketen und atomwaffenfähige Ch-101-Marschflugkörper, so das ISW.
Ukraine holt Oreschnik vom Himmel: Druck auf Trump wächst Tomahawk-Raketen zu liefern
Allerdings kartet die Ukraine weiter nach – ihr scheint schon ein Dorn im Auge zu sein, dass Russland die 9M729-Oreschnik überhaupt zur Verfügung hat; ungeachtet deren Anzahl oder Fronttauglichkeit, wie Reuters über Äußerungen Andrii Sybihas berichtet: „Der Einsatz der vom INF verbotenen 9M729 durch Russland gegen die Ukraine in den vergangenen Monaten beweist Putins Missachtung der Vereinigten Staaten und der diplomatischen Bemühungen von Präsident Trump, den Krieg Russlands gegen die Ukraine zu beenden“, wie der ukrainische Außenminister schriftlich niedergelegt haben soll. Anders als das ISW beurteilen verschiedene Analysten die Gefahr durch die Oreschnik für die europäische Sicherheit als absolut gegeben.
Allerdings lässt Reuters durchblicken, dass die Ukraine mit ihrer Ankündigung über den Oreschnik-Abschuss Druck ausüben will auf US-Präsident Donald Trump: Der Fokus liege nach wie vor auf der Lieferung von Tomahawk-Marschflugkörpern, wie Autor Tom Balmforth die Äußerungen Sybihas interpretiert. „Er sagte gegenüber Reuters, Kiew unterstütze Trumps Friedensvorschläge und Russland müsse maximalem Druck ausgesetzt werden, um es zum Frieden zu bewegen. Die Stärkung der ukrainischen Feuerkraft auf große Entfernungen würde Moskau dazu bewegen, den Krieg in der Ukraine zu beenden.“ (Quellen: Institute for the Study of War“, Reuters, Anadolu, Suspilne, Ukrainska Prawda, Le Monde, Euromaidan Press) (hz)