Manchmal, nein: immer ist es gut, Gerichtsurteile erst einmal sacken zu lassen, ehe man ihnen Interpretationen zu entlocken versucht. Und ausnahmslos lohnt es sich, Nachschau im Archiv zu halten. Mit einigem zeitlichen Abstand kommen da nämlich vor allem apodiktische Aussagen von Politikern eher auf tönernen Beinen daher.
Das zeigt sich aktuell am Beispiel der Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der EU. Die trat vor fast auf den Tag genau drei Jahren in Kraft. Und am Dienstag überstand sie eine potenziell fatale juristische Nagelprobe. Der Gerichtshof der EU bestätigte ihre Rechtmäßigkeit in seinem Urteil in der Sache C-19/23, wenngleich mit zwei Ausnahmen.
Erstens darf die EU jenen Ländern, in denen es gesetzliche Mindestlöhne gibt (wozu Österreich bekanntlich nicht zählt), keine Kriterien vorschreiben, wie diese festzulegen wären (Artikel 5 Absatz 2, der nun vom Gerichtshof annulliert wird, sähe das vor). Zweitens dürfen Mitgliedstaaten, in denen gesetzliche Mindestlöhne regelmäßig indexiert, also über einen Preiskorb angepasst werden, nicht dazu verpflichtet werden, die Senkung gesetzlicher Mindestlöhne durch so einen Index auszuschließen. Für diese beiden Bestimmungen „besteht keine Gesetzgebungskompetenz der Union“, hält der Hof in Randziffer 137 seines Urteils fest.
Der Rest der Richtlinie aber ist rechtlich einwandfrei. Das sahen auch die Regierungen Belgiens, Deutschlands, Griechenlands, Spaniens, Frankreichs, Luxemburgs und Portugals so. Sie sprangen im Verfahren als Streithelfer der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament, und dem Rat bei, während Dänemark und sein Streithelfer Schweden auf die Nichtigerklärung der Richtlinie geklagt hatten.
Österreich scheint im Urteil nicht auf. Das ist insofern bemerkenswert, als es der damalige Arbeitsminister, Martin Kocher von der ÖVP, vor vier Jahren mitten im Gesetzgebungsverfahren für geboten hielt, ohne Not mit einer grellen Warnung dazwischen zu grätschen. Wie „Die Presse“ damals berichtete, warnte Kocher im EU-Unterausschuss des Nationalrats Anfang Mai 2021 vor „nicht unerheblichem Umsetzungsbedarf“ und einer „potenziellen Gefährdung der Sozialpartnerautonomie“. Die EU sei nicht befugt, in der Frage der Mindestlohnsetzung Gesetze zu erlassen. Sein Ministerium schob eine entsprechende Stellungnahme nach. „Insbesondere auch in Bezug auf die Rechtsgrundlage wird der Richtlinienvorschlag als problematisch erachtet“, stand darin.
Auch die Landtage Oberösterreichs und Vorarlbergs lehnten sich damals europarechtlich weit hinaus, um vor der nahenden Mindestlohn-Richtlinie zu warnen. Der oberösterreichische Landtag erachte den damaligen Richtlinienvorschlag der Kommission laut Stellungnahme „in erheblichem Ausmaß als kompetenzwidrig.“ Denn: „Die Erlassung einer solchen Richtlinie würde ohne ausreichende Rechtsgrundlage erfolgen und die primärrechtlichen Regelungsschranken der Union zulasten der Handlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten und der Sozialpartner überschreiten.“ Dem stand der Vorarlberger Landtag um nichts nach. „Es wird festgestellt, dass der Richtlinienvorschlag in weiten Teilen EU-kompetenzrechtlich nicht gedeckt ist“, teilte er dem Bundesrat damals mit.
Tja. Dumm gelaufen. Oder eigentlich klug gelaufen. Der Gerichtshof hat ein vernünftiges Urteil gefällt. Wo die Richtlinie in der Tat über den Rahmen der Kompetenzen der Union hinauswucherte, hat er sie mit flinker Schere tailliert. Im Großen und Ganzen aber bleibt sie geltendes Recht. Wer der Meinung ist, dass sich Arbeit auszahlen muss (vor allem im Vergleich zu Sozialleistungen für jene, die nicht arbeiten), sollte es befürworten, dass gerade jene ganz unten in der Entlohnungspyramide vorhersehbare und möglichst faire Bedingungen für die Lohnsetzung haben.
Die österreichischen Sozialpartner schränkt die Richtlinie ohnehin nicht ein. Sie verhandeln vier Jahre nach Kochers Warnung vor der Gefährdung ihrer Autonomie weiterhin mehr oder weniger munter Kollektivverträge aus.
Man kann im Lichte dieser Episode nur hoffen, dass der gewesene Minister Kocher, der seit September Gouverneur der Oesterreichischen Nationalbank ist, in diesem Amt europarechtlich besser beraten wird. Das könnte es ihm unter anderem ersparen, sich auf europäischer Ebene in merkwürdige aktivistische Sackgassen zu verlaufen.