Die Errichtung eines Gedenkortes braucht in Deutschland häufig eine denkwürdig lange Zeit – auch wenn ein breiter Konsens schon länger vorhanden ist. Das aktuelle Beispiel ist das Denkmal für die polnischen Opfer des Zweiten Weltkrieges, das schon 2013 Władysław Bartoszewski forderte und dessen Errichtung der Deutsche Bundestag im Oktober 2020 beschlossen hat.
Erfreulicherweise ergänzte er das Denkmal um ein Deutsch-Polnisches Haus, ein Museums- und Begegnungsort, in dem ein Austausch stattfinden und wo in einer historischen Ausstellung die lange gemeinsame Geschichte erklärt werden kann.
Der Aspekt des reinen Gedenkens, den viele Polinnen und Polen als das Herzstück des Projektes ansehen, rückte jedoch im Lauf der Zeit in den Hintergrund und war in der aktuellen Konzeption vom Herbst 2023 zum „Gedenkzeichen“ geschrumpft.
Ein überarbeiteter Realisierungsvorschlag von Juni 2024 benennt nun wieder ein Denkmal als zentrales Element für „plurales Gedenken“, das kollektive und individuelle „Erinnerungspraktiken“ ermöglichen soll: „Die Nachkommen aller Opfer sollen sich in dem Denkmal repräsentiert und aufgehoben fühlen. Die deutsche Gesellschaft soll an die bleibende Verantwortung Deutschlands für die Verbrechen in Polen unter der deutschen Besatzungsherrschaft erinnert werden.“
Die Autoren
- Prof. Dr. Igor Kąkolewski ist Direktor des Zentrums für historische Forschung Berlin der polnischen Akademie der Wissenschaften.
- Prof. Dr. Stephan Lehnstaed ist Historiker und Professor für Holocaust-Studien und Jüdische Studien an der Touro University Berlin.
- Dr. Wolfram Meyer zu Uptrup ist Historiker und Antisemitismusforscher. Projektleitung Geschichtsbuch ‚Europa. Unsere Geschichte‘ 2007-2012.
Drei Personal-Stellen für das Projekt reichen nicht
In dieser umfassenden Aufgabe liegt der Grund für das Museum, denn allein die Widmung des Denkmals stellt eine größere erinnerungspolitische Herausforderung dar: Von den rund fünf Millionen Kriegstoten unseres Nachbarlands waren rund drei Millionen jüdischer Herkunft; die anderen zwei Millionen verteilen sich auf ethnische Polinnen und Polen, aber auch auf Angehörige der ukrainischen, litauischen, belarussischen und auch deutschen Minderheiten des Vielvölkerstaates, der Polen bis zum deutschen Überfall gewesen war.
Hier niemanden auszuschließen und zugleich keine Opferkonkurrenz zu schüren, ist nicht leicht: Sind etwa die ukrainischen Toten Galiziens Bevölkerungsverluste Polens oder der Ukraine? Und wie gedenkt man in Deutschland der Opfer der sowjetischen Besatzung Ostpolens zwischen 1939 und 1941?
Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk (links) empfing Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) am 7. Mai mit militärischen Ehren.
© dpa/Michael Kappeler
Die Bundesregierung hat 2022 bei der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas eine Stabsstelle eingerichtet, die in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Polen-Institut in Darmstadt den erwähnten Realisierungsvorschlag vorlegte. Doch zu dessen Umsetzung ist bisher wenig geschehen, weil der Bundestag weder dem Realisierungsvorschlag zugestimmt, noch nennenswerte Gelder bereitgestellt hat.
Mit drei Personal-Stellen und ohne einen geeigneten Bauplatz lassen sich weder Architektur- noch Kunstwettbewerbe durchführen, geschweige denn ein Bauprojekt oder eine Dauerausstellung vorbereiten.
Dieses Deutschlandtempo sorgt nicht nur in Polen für Verstimmung, sondern auch bei den ursprünglichen Initiatoren des Denkmals hierzulande. Deshalb wurde nun am 8. Mai ein provisorisches Denkmal errichtet, zwischen dem Reichstag und dem Bundeskanzleramt – auf dem Gelände der früheren Kroll-Oper, in der Adolf Hitler am 1. September 1939 seine berüchtigte Rede zum Angriff auf Polen hielt.
Das provisorische Polen-Denkmal zwischen dem Reichstag und dem Bundeskanzleramt
© Wolfram Meyer zu Uptrup
Das Deutsche Polen-Institut hat hierfür Spenden gesammelt und eine Genehmigung des Berliner Abgeordnetenhauses eingeholt, die verbunden ist mit der Auflage, dass der Stein maximal fünf Jahre dort stehen darf.
Dieses unbürokratisch beschleunigte Verfahren hat viel Charme und zeigt, wie wichtig zivilgesellschaftliches Engagement ist, um die Erinnerungskultur lebendig zu halten. Freilich sind damit auch Nachteile verbunden, denn der Widmungstext wird nicht von einem demokratisch legitimierten Gremium stammen, es handelt sich letztendlich um ein Privatdenkmal.
Und mehr noch: Wenn die lautesten Stimmen ihr Anliegen zumindest teilweise realisieren, ist viel Druck aus dem sowieso nicht besonders gut angeheizten Kessel genommen.
Der Diskurs in Polen ist nach rechts gerückt
Dabei wäre es durchaus notwendig, etwas zu tun. Die deutsch-polnischen Beziehungen der letzten Jahre waren geprägt von einer konfrontativen Haltung der PiS-Regierung, die nicht zuletzt den Vorwurf erhob, die Deutschen würden sich viel zu wenig mit ihrer Schuld an den Verbrechen in Polen nach 1939 befassen.
Seit dem Regierungswechsel zur PO mit Donald Tusk sind diese Töne leiser geworden, haben damit aber nichts von ihrer Berechtigung verloren. Tatsächlich wirken die Berliner Verantwortlichen nach wie vor etwas konzeptionslos gegenüber ihren Partnern östlich der Oder, wo der Krieg in der Ukraine das Selbstbewusstsein und auch das Gewicht Polens in der EU hat wachsen lassen.
Für einen echten Neustart der deutsch-polnischen Beziehungen ist ein kräftiger Impuls aus Deutschland vonnöten.
Wolfram Meyer zu Uptrup, Igor Kąkolewski und Stephan Lehnstaedt
Außerdem hat sich der politische Diskurs in unserem Nachbarland – wie hierzulande – in den letzten Jahren deutlich nach rechts verschoben. Die Folge ist, dass sich Donald Tusk bei seinen Gesprächen mit Olaf Scholz immer scharfen Angriffen der Opposition ausgesetzt sah, die ihm vorwarf, sich zum Handlanger Berlins zu machen.
Für einen echten Neustart der deutsch-polnischen Beziehungen ist deshalb ein kräftiger Impuls aus Deutschland vonnöten. Notwendig ist ein klares Signal, dass die historischen Hausaufgaben gemacht werden und es nur um eine Partnerschaft auf Augenhöhe gehen kann.
Das Deutsch-Polnische Haus im Verbund mit dem Denkmal ist dafür wie geschaffen. Aber Deutschland muss auch liefern und das Projekt mit substanziellen Mitteln zügig auf den Weg bringen. Ganz deutlich muss dabei sein: Das Denkmal ist eine Bitte um Verzeihung für historische Schuld. Das Museum muss ein Ort der Begegnung, vor allem aber der Information der deutschen Bevölkerung werden.
Zusammendenken, was zusammen gehört
Jedoch sind wir der Überzeugung, dass die nun anstehende Phase einer viel engeren Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Polen bedarf. Es wäre an der Zeit, das Denkmal wie geplant, aber allein in deutscher Verantwortung zu errichten, und es organisatorisch vom Museums- und Begegnungsprojekt zu trennen.
Das auf die Gegenwart und Zukunft gerichtete Deutsch-Polnische Haus sollte in gemeinsamer Verantwortung und doppelter Trägerschaft von Deutschland und Polen realisiert werden – zeitgleich mit dem Denkmal.
Ideal wäre es, zwei Dependancen in Berlin und Warschau zu errichten, die das zusammendenken, was zusammengehört – aber auf unterschiedliche Weise erklären und vermitteln. Auf diese Weise könnten wir als Deutsche und Polen zeigen, wie wir angesichts von deutscher Schuld die Gegenwart und Zukunft gemeinsam beschreiten wollen.
Die erfolgreichen deutsch-polnischen Projekte seit der friedlichen Revolution 1989 sind zahlreich. Eines davon ist die deutsch-polnische Schulbuchreihe „Europa. Unsere Geschichte“, nach der deutsch-französischen „Histoire/Geschichte“ das zweite transnationale Geschichtsbuch in der Europäischen Union und eines von ganz wenigen weltweit.
Wenn Historiker aus Deutschland und Polen in der Lage waren, ein bilaterales Schulbuchprojekt zu verwirklichen, warum sollten wir uns dann in den folgenden Jahren nicht die ehrgeizige Aufgabe zutrauen, die erste bilaterale Museums- und Bildungsstätte in Europa zu schaffen? In Europa und für Europa!
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Ein Ort, der die komplizierte deutsch-polnische Beziehungsgeschichte in einem breiteren europäischen Kontext und Zeitrahmen darstellt und natürlich einen Schwerpunkt auf die Geschichte des Zweiten Weltkrieges legt. Aber auch darüber hinausgeht, um zu erklären, warum es zu dieser Tragödie kam.
Mit dem Ziel, die Vergangenheit besser zu verstehen, aber auch Fragen nach einer gemeinsamen Zukunft zu stellen: der Zukunft Deutschlands und Polens, und auch Europas, das solche transnationalen Projekte heute im Schatten des russischen Angriffskrieges in der Ukraine mehr denn je braucht.