«Sollte es eine Schule geben, an der Handys verboten sind, dann ziehe ich dorthin» – Sophie Hunger über Sprache und ihre Angst vor Social Media

Sophie Hunger hat ihr Literatur-Debüt geschrieben und überzeugt auch zwischen zwei Buchdeckeln. Ein Gespräch über hohen Anspruch, den Einfluss von Deutschlehrern und den Reiz des Geheimnisses.

Sophie Hunger macht Musik, Literatur und dann und wann sogar Politik. Sophie Hunger macht Musik, Literatur und dann und wann sogar Politik.

Bild: Marikel Lahana

Buchmessen sind die Festivals der Literaten. Hohe Stardichte, zahlreiche Bühnen, viele Stände. Mittendrin neuerdings: Sophie Hunger. Die Schweizer Musikerin schreibt jetzt auch. Ihr Debüt «Walzer für Niemand» ist ein berührendes Werk über das Erwachsenwerden und wird mit Lob überhäuft.

Hunger hat gerade für die Buchmesse im Hotel in Leipzig eingecheckt, als wir sie erreichen. Sie wisse noch nicht genau, was man auf so Messen mache, gibt sie zu. Es sei aber eine schöne Erfahrung. Und vor allem sei es viel weniger aufwendig als das Musikerleben: Es brauche keine grosse Crew, sondern einfach nur ein Buch.

Ich hatte Respekt, als ich hörte, dass Sophie Hunger ein Buch schreibt. Ich fürchtete, dass ein schlechtes Buch mir auch die Musikerin Sophie Hunger kaputtmachen würde. Hatten Sie auch solche Bedenken?

Sophie Hunger: Ich hatte sehr viel Respekt. Generell davor, dass ich eine Dummheit mache. Und deshalb, weil heute schon so viel publiziert wird, dass es auch ressourcentechnisch idiotisch ist, wenn ein schlechtes Buch geschrieben wird und dann auf der Müllhalde landet. Ich kann nicht selbst beurteilen, ob mein Buch gut geworden ist.

Ist es.

Ich habe aber lange gehadert, und es hat selbst im Schreibprozess lange gedauert, bis ich sicher war, dass das Buch auch tatsächlich veröffentlicht wird.

Das aktuelle Buch von Sophie Hunger. Das aktuelle Buch von Sophie Hunger.

Bild: zvg

Woher kommt der hohe Anspruch an sich selbst?

Bei der Sprache war es mein Deutschlehrer am Gymnasium in Zürich. Herr Schulz. Eine absolute Koryphäe. Wir hatten bei ihm ein halbes Literaturstudium. Wir haben viel über Bücher diskutiert und darüber, was Sprache leisten kann und soll. Das hat bei mir zwar die grosse Lust auf Literatur geweckt, gleichzeitig aber auch riesige Ehrfurcht eingeflösst. Bücher schreiben, so dachte ich, solle man nur, wenn man es so genial kann wie Jane Austen oder Virginia Woolf. Sonst soll man lieber ein paar Geburtstagskarten schreiben.

Wann haben Sie gemerkt, dass es funktioniert?

Als ich etwas über die Hälfte der Geschichte geschrieben hatte. Ich habe mir drei Elemente für mein Buch vorgenommen – die Freundschaft zwischen der Erzählerin und Niemand, die mystischen Figuren der Walserinnen und die Musik. Es hat einen Moment gedauert, bis diese Elemente begonnen haben, miteinander zu tanzen, bis die Fäden ineinandergelaufen sind.

Wenn ich Sophie Hunger lese und dann Sophie Hunger höre, denke ich: Eigentlich hat sie schon immer sehr literarisch getextet.

Das verdanke ich wohl eben Herrn Schulz. Er und meine anderen Deutschlehrer haben in mir das Verständnis geschärft, dass ein Text nie banal ist. Ich lese beispielsweise sehr gerne Anleitungen, etwa von Staubsaugern. Und selbst da entdeckt man Wendungen, die Ironie enthalten könnten oder eine schöne Metapher. Sprache ist wie ein unendliches Spiel. Es ist nie nur das, was auf der Seite steht.

In den vergangenen Jahren ist in meinen Augen dieses Spielerische in der Sprache oft etwas abhandengekommen. Wir wollen alles auserklärt haben. Und wenn es doch mal Unklarheiten gibt, dann fragen wir ChatGPT, ob es das für uns zusammenfassen und erklären könnte. Ihr Buch lässt viele Geheimnisse.

Mir ist das Geheimnis lieber als die Auflösung. Auch die Protagonisten im Buch lieben das offene Schicksal. Ihre Geschichte muss keine Logik haben. Und daran verzweifeln sie nicht. Wir leben heute in einer Zeit, in der wir viel zu viel von der Sprache erwarten. Sie muss alles bezeichnen. Das kann die Sprache niemals leisten. Es wird nie für alles ein Wort geben. Am Ende sind wir immer noch Menschen, die Bedeutungen und Inhalte einfach empfinden können, ohne dass wir sie genau bezeichnen können.

Vom Popstar zur Literatin

Emilie Welti, besser bekannt als Sophie Hunger, ist eine der bekanntesten Musikerinnen der Schweiz. Mit ihrem vielschichtigen Pop begeistert die 42-Jährige seit knapp 20 Jahren quer durch Europa. Die Tochter eines Diplomaten und einer Politikerin wuchs in der Schweiz, Deutschland und England auf.

Nach diversen Alben und ausverkauften Touren war es jüngst etwas stiller um Hunger: Sie wurde zweimal Mutter. Sie sitzt auch im Komitee zur Elternzeit-Initiative, die am Mittwoch in Bern lanciert wurde. «Walzer für Niemand» ist ihr erster Roman. Ein gleichnamiges Lied ist bereits 2008 erschienen. Was oder wer dieser «Niemand» ist, bleibt sowohl im Buch als auch im Song offen.

Kommende Woche startet sie mit ihrer Lese/Musik-Tour in der Schweiz. Die Auftritte in Bern, Basel und Zürich sind alle ausverkauft. Tickets gibt es noch für ihren Auftritt in Luzern am Festival Luzern Live am 24. Juli.

Wer so offen schreibt wie Sie, lässt auch viel Raum für Interpretationen. Die kann abweichen von dem, was Sie eigentlich beim Schreiben im Kopf hatten. Ist das nicht noch schwierig?

Ich habe ein grosses Grundvertrauen in die Menschen. Wenn ich jetzt Interpretationen korrigieren würde, dann wäre das eine autoritäre Haltung. Wenn man will, dass alle etwas genau gleich deuten, dann muss man Staubsaugeranleitungen schreiben. Und selbst die werden ja nicht von allen verstanden.

Ihr Buch beschreibt das Erwachsenwerden. Mit all seinen Schattenseiten. Sie sind selbst Mutter geworden. Bekommt man da nicht Angst, wenn man begreift, was alles für Baustellen auf einen zukommen?

Ich bin ja noch frisch in dem Game. Meine Kinder sind noch keine drei Jahre alt. Ich gehöre noch zu den Anfängerinnen im Elternsein. Aber ja: Ich habe einen gigantischen Respekt. Wenn man Kinder hat, ist man immer in so einer ultimativen Gegenwart gefangen. Ihr Leben ist immer im Jetzt. Dadurch hat man – vielleicht zum Glück – gar nicht so die Möglichkeit zum Vorausdenken. Man muss immer schauen, wie man den Tag schadlos übersteht.

Vor was haben Sie am meisten Respekt?

Vor Social Media und dem Internet. Ich habe fast schon den Reflex zu sagen, meine Kinder dürfen nie ein Handy haben und nie ins Internet. Und sollte es eine Schule geben, an der Handys verboten sind, dann ziehe ich extra dorthin. Und natürlich fürchte ich mich auch vor der Klimaerwärmung.

Was macht Ihnen so viel Sorgen an Social Media?

Es ist so unbegleitet. Man hat herausgefunden, dass bereits die kleinsten Kinder so in Kontakt mit Gewalt und Pornografie kommen. Und das in einem Alter, in dem die Seele so empfindsam ist.

Sind wir wirklich behüteter aufgewachsen? Wir haben damals auch bei den Papiersammlungen die Sexheftli aus den Stapeln gegraben.

An das kann ich mich auch erinnern. Aber das war dort auf diesem Altpapierhaufen. Und nicht ständig verfügbar in unserem Hosensack. Es wird durch die ständige Verfügbarkeit so normal. Die Art und Weise, wie im Internet kommuniziert wird, ist schon sehr primitiv. Das macht etwas mit den Jungen. Es beeinflusst, wie man Frauen behandelt. Oder wie man einander behandelt. Das macht mir Angst.

Aber müssten wir unseren Kindern dann nicht vor allem die nötigen Spielregeln mitgeben?

Doch, unbedingt. Ein Verbot ersetzt nicht die Auseinandersetzung. Das braucht sehr viel Zeit und Zuwendung. Und das ist vielleicht etwas, was in unserer Gesellschaft derzeit etwas fehlt.

Was können wir dagegen machen?

Ich bin jetzt beispielsweise im Komitee für die Initiative für eine Elternzeit. Eine der wichtigsten Sachen dieser Vorlage ist, dass Eltern bereits sehr früh genug Zeit für ihre Kinder haben. Das ist wie bei einer Pflanze: Die erste Zeit ist unglaublich wichtig und prägend für das weitere Wachstum. Wenn sie noch fein ist, müssen wir besonders Sorge geben. Und das ist einfach etwas, was wir als Gesellschaft entscheiden können. Die Schweiz hat ja genügend Geld – die Staatsverschuldung ist sehr tief. Wir können sagen: Das wollen wir uns leisten.

Ein Spaziergang wird diese Initiative nicht. Im Parlament sind entsprechende Anläufe schon gescheitert.

Die Schweiz hat durch ihr politisches System manchmal die Tendenz, der Zeit etwas hinterherzuhinken. Gerade der Ständerat ist durch seine Zusammensetzung überhaupt nicht repräsentativ für unser Land. Aber jetzt brauchen wir das Instrument der Initiative. Und ich bin sehr zuversichtlich, dass wir damit auf grosse Zustimmung stossen.

Über die Schweiz schreiben Sie den wunderschönen Satz: «Auch das Scheitern muss in aller Gründlichkeit getestet sein.» Ist das Kompliment oder Kritik?

Weder noch. Das ist einfach eine liebevolle Beschreibung unserer Mentalität. Das ist ein bisschen mein Job. Die Welt anzuschauen, kleine Motive darin zu erkennen und diese ans Licht zu holen. Sei es als Lied oder als Buch.

Wenn Sie in Ihrem Buch über die Walserinnen schreiben, brauchen Sie das generische Femininum. Das ist auch etwas edukativ, oder?

Die weibliche Wirklichkeit war jetzt eine sehr lange Zeit etwas unsichtbar in der Kultur und in der Öffentlichkeit. Seit ein paar Jahrzehnten sind wir am Aufholen. Und wenn ich schon etwas schreibe, dann empfinde ich es als ehrenvolle Aufgabe, die weibliche Wirklichkeit zu repräsentieren und sie sichtbar zu machen. Ich denke, die andere Sicht auf die Welt hat schon genug Raum bekommen. Das muss ich nicht auch noch machen.

Sie haben vor ein paar Jahren lautstark beklagt, dass an Festivals zu wenig Frauen auf der Bühne stehen. Hat sich seither etwas gebessert?

Ich weiss es ehrlich gesagt nicht so genau, da ich es nicht mitverfolgt habe. Die letzten drei Jahre war ich mehrheitlich zu Hause. Und habe auch ein ganzes Jahr keine Social Media konsumiert.

Wirklich? Gar nix?

Ja, das Motto für 2024 war «The Revolution will not be televised». Ich war aber auch schwanger und wieder in einer Empfindsamkeit, in der es das alles nicht braucht. Und man sieht klarer, um was es im Leben wirklich geht. Zu den Festivals: Ich habe noch kein einziges Argument gehört, warum es normal sein soll, dass am Ende nur Männer auf der Bühne stehen. Gleichzeitig verkauft niemand so viele Tickets wie Taylor Swift oder Beyoncé. Am Erfolg oder Können kann es also ganz offensichtlich nicht liegen.

Wenn man etwas böse sein will, wechseln Sie jetzt von einem Macho-Business, der Musik, in die Literatur, wo es auch von vielen problematischen Männerfiguren wimmelt?

Es gibt dieses Bild vom Schriftsteller im Anzug. Das finde ich schon auch ein bisschen gruslig. Aber ich finde immer: Leben und leben lassen. Ich bin Demokratin. Mich freut es immer, wenn alle das machen können, was sie gut können.

Sie haben gesagt, Sie hätten ein grosses Vertrauen in die Menschen. Auch Ihre Figuren im Buch – bis auf eine – verlieren nie ihre Zuversicht. Woher nehmen Sie Ihren Optimismus?

Das weiss ich nicht genau. Vielleicht ist es einfach die Grundhaltung. Wenn ich am Horizont dunkle Wolken aufziehen sehe, dann denke ich: «Ok, es ist halt so. Aber da gehen wir jetzt durch. Und das Gewitter zieht vorbei.» Ich habe ein Urvertrauen in den Menschen. Das sieht man auch, wenn man Kinder hat und begreift, wie viel Gutes in diesen Wesen steckt. Man muss schon ziemlich viel falsch machen, um den Keim der Kreativität und des Lebenswillens zu ersticken.

Es ziehen derzeit gerade viele dunkle Wolken auf in dieser Welt.

Dann kommt für mich die Gruppe ins Spiel. Wir müssen uns zusammenraufen und uns fragen: Was machen wir dagegen? Ich bin dann schon nicht die, die einfach dasteht und es auf sich regnen lässt. Wir Schweizerinnen und Europäer, wir sind jetzt an diesem Punkt, an dem wir merken, dass lange andere den Regenschirm aufgehalten haben und wir das nun selbst übernehmen müssen. Es muss schnell gehen. Aber wir sind ja keine Idioten. Wir können das. Wir haben ja auch die besten Universitäten des Kontinents bei uns. Wir müssen uns fragen: Was ist ein gutes Leben? Und dann alles dafür machen, damit wir es leben können.

Was ist ein gutes Leben?

Ein Leben ohne Willkür. Eines, bei dem man – zumindest ungefähr – die Spielregeln versteht und nicht den Launen von Tyrannen ausgesetzt ist. Innerhalb dieser Regeln kann sich dann jeder und jede nach seinen und ihren Möglichkeiten entfalten. Ein gutes Leben ist sicher nicht drei Handys haben und einen Tesla fahren.