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 Ein junger Bundeswehrsoldat der Luftwaffe und ein ziviler Begleiter stehen in einer nächtlichen Bahnhofsgaststätte in Westdeutschland. Sie betrachten gemeinsam einen Ausweis oder ein Dokument. Auf dem Tisch davor stehen zwei Gläser Bier. Aufnahme aus den frühen 1960er-Jahren. Zivilist und Soldat in den frühen 1960er-Jahren, als die Wiederaufrüstung alles andere als selbstverständlich war. © Imago Images

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler legt ein Buch vor, das viele Deutsche provozieren muss. Von Michael Hesse

Wird er wirklich auf ihn warten? Mit leicht nassen Händen vor Aufregung, ob er auch kommen wird? Aber es ist nicht ein Liebhaber, der kommen soll. Es ist der Feind. Die Rede ist von Wolodymyr Selenskyj, dem ukrainischen Präsidenten, der in Istanbul auf Wladimir Putin, seinen russischen Amtskollegen, warten will. So hat er es angekündigt. Putin hat den Vorschlag gemacht, sich am Donnerstag dort zu treffen und über Krieg und Frieden zu sprechen. Es geht also um alles – oder nichts. Der russische Angriff auf die Ukraine, der eigentlich bereits im Jahr 2014 begann, hat nicht allein zu einer Neubewertung der Sicherheitslage geführt, er hat vor allem ganze Gesellschaftszweige voneinander entfernt.

In der Wochenzeitung „Die Zeit“ wurde in der vergangenen Woche ein Debattenbeitrag abgedruckt, der die Forderung aufstellte, man müsse mal über Aufrüstung reden und diese nicht als unhinterfragbares Faktum der Vernunft darstellen. Diesen Fehler habe man ja bereits in der Pandemie gemacht und auch in Bezug auf unterlassene Gespräche mit dem Kreml, als dieser seine Truppen längst in der Ukraine stehen hatte. Unterzeichnet haben den Beitrag unter anderem die Schriftstellerin Juli Zeh und der Wiener Philosophie-Professor Robert Pfaller. Eine große Welle hat der Beitrag nicht geschlagen, doch es gab einerseits in der „Zeit“-Redaktion Widerspruch. Zum anderen meldete sich der Militärexperte Carlo Masala, der erklärte: Wir müssen reden, klar, aber nicht so.

Doch wie soll man reden? Deutschland ist ein Land, das starke pazifistische Strömungen aufweist, nicht ohne Grund, wie ein Blick auf zwei Weltkriege verrät. Andererseits hat auch US-Präsident Donald Trump mittlerweile bemerkt, dass Putin andere Ziele verfolgt, als etwa Juli Zeh oder Robert Pfaller glauben: Putin wolle das „ganze Ding“, sagte Trump jetzt vor Unternehmern. Damit war die ganze Ukraine gemeint. Das heißt, Putin will sie in ihrer jetzigen Form zerstören. Über diese Aggression kann man nicht hinwegsehen, selbst wenn man sich auf den Standpunkt stellt, dass der Westen Russland in den 1990er Jahren hoch und heilig versprochen habe, die Nato nicht Richtung Osten zu erweitern.

Die deutsche Zögerlichkeit

Was also tun? Eine Antwort hat Herfried Münkler, emeritierter Politikwissenschaftler und Spezialist für politische Ideengeschichte, in seinem jüngsten Buch „Macht im Umbruch“ vorgelegt. Darin geht es um Deutschlands Rolle in Europa und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, so der Untertitel. Münkler vollzieht darin nicht nur eine Rückbesinnung auf das geopolitische Denken. Vielmehr entwirft er eine Diagnose des gegenwärtigen Umbruchs der internationalen Ordnung, in der alte Gewissheiten – von der Pax Americana über das Primat des Völkerrechts bis zur Idee des „Wandel durch Handel“ – dramatisch an Geltung verlieren. Seine These ist klar: Wer sich heute nicht auf eine Welt der Machtkonflikte einstellt, wird nicht über sie mitreden können. Und schon gar nicht gestalten.

Während autoritäre Mächte wie China und Russland gezielt und strategisch auf Machterweiterung hinarbeiten, reagiert Deutschland häufig defensiv, moralisch überformt, wie Münkler meint, zögerlich – kurz: machtvergessen. Diese Haltung erklärt sich aus der historischen Hypothek des 20. Jahrhunderts. Doch Münkler argumentiert, dass diese Tradition der Zurückhaltung unter den Bedingungen einer entgrenzten und fragmentierten Weltordnung zunehmend dysfunktional ist.

Deutschland sei, so Münkler, nicht mehr der Zuschauer im Konzert der Mächte, sondern – aufgrund seiner ökonomischen Stärke und geopolitischen Lage – längst ein Akteur, der Verantwortung übernehmen müsse. Diese Verantwortung lasse sich jedoch nicht mehr in der Sprache normativer Appelle oder ökonomischer Soft Power artikulieren, sondern erfordere ein Denken, das „Interessen“ nicht als Schimpfwort, sondern als strategischen Imperativ versteht.

Die EU, so Münkler, hat über Jahrzehnte hinweg ein Modell der Machtvermeidung kultiviert. Sie hat aus ihrer Geschichte den Schluss gezogen, dass Machtkonzentration gefährlich sei – und sich stattdessen auf ein regelbasiertes, multilaterales System verlassen. Doch in einer Welt, in der Regeln immer öfter von den Stärkeren geschrieben oder ignoriert werden, sei diese Strategie nicht mehr tragfähig. Europa müsse lernen, „mit einer Stimme“ zu sprechen, fordert Münkler, und das gehe nur, wenn Deutschland seine Führungsrolle anerkenne – und sie auch ausübe.

Einen Weg sieht er in der Wiederbelebung des „Weimarer Dreiecks“, jener Verbindung von Paris, Warschau und Berlin. Während Paris und Warschau die Schwingen dieses Bündnisses seien, könne Berlin den Leib bilden, an dem diese Halt finden. Genau das ist ja ein Ziel der neuen Bundesregierung unter Kanzler Friedrich Merz. Die offene Frage ist, wie groß die Gemeinsamkeiten sein werden und ob sich nicht doch Interessensgegensätze besonders zwischen Deutschland und Frankreich durchsetzen, die bereits Ex-Kanzler Scholz und auch Ex-Kanzlerin Merkel auf Distanz zu Paris brachten.

Münkler schreibt nicht alarmistisch, aber mit einer leisen Dringlichkeit. Er beschreibt, wie Macht heute funktioniert – und wie die alten Modelle der Machtausübung zurückkehren: über territoriale Kontrolle, über Rohstoffabhängigkeiten, über militärische Präsenz und technologische Standards. Die liberale Weltordnung, einst als unumkehrbar gedacht, steht zur Disposition. Das bedeutet nicht das Ende des Multilateralismus – aber dessen Rahmenbedingungen haben sich verschoben.

Ein unbequemes Buch in schwieriger Zeit

Münklers Buch ist ein Versuch, die Fundamente außenpolitischen Denkens neu zu vermessen – allerdings setzt es in entscheidenden Fragen auf eine Rationalität von politisch Verantwortlichen, nicht dem eigenen Land schaden zu wollen. In den USA lässt sich gerade beobachten, dass eine Regierung durchaus bereit ist, einer Politik zu folgen, bei der das eigene Land Nachteile hat. Einige haben Münkler vorgeworfen, die Rückkehr zur Machtpolitik allzu bereitwillig zu akzeptieren und die normativen Ressourcen liberaler Ordnungen zu unterschätzen. Zudem habe er vor einigen Jahren noch genau das Gegenteil geschrieben, dass die Zeit der Geopolitik endgültig vorüber sei. So kann man sich irren. Aber Geschichte ist nun einmal kein teleologisch strukturierter Prozess, daran hat Karl Marx noch geglaubt, heute zählt dies zu den Mythen der Geschichtstheorie.

Münkler ist in seiner Prognose auffallend vorsichtig. Es kann ja auch alles anders kommen. Rechtsradikale Strömungen können in Paris die Macht an sich ziehen, in Polen war das ja vor dem Wahlerfolg von Donald Tusk der Fall. Was dann? Die derzeitige Annäherung Großbritanniens an die EU in machtpolitischer Hinsicht hat Münkler bereits im Blick. Darin liegt in der Tat eine Chance. Europa wirkt wieder etwas stärker.

„Macht im Umbruch“ ist ein unbequemes Buch. Es fordert dazu heraus, das eigene Selbstverständnis zu überdenken. Es ist ein Appell, sich auf die Regeln eines Spiels einzulassen, das andere längst wieder spielen. Aber muss man solche „Spiele“ um jeden Preis so spielen wie die anderen? Das ist die große Frage unserer Zeit. Wie verhindert man Erpressungen von einem Land, das sich die Aggression auf die Fahnen geschrieben hat, ohne selbst in blinden Militarismus zurückzufallen?

Eines ist klar, wer Macht gestalten will, darf sie nicht einfach tabuisieren.