
Keine Frage, bei dem Namen Wolfgang Seidel schießt jedem einigermaßen in der deutschen Rock-Historie bewanderten Musik-Fan umgehend die Band Ton Steine Scherben in den Sinn. Der gute Wolfgang war Mitgründer dieser Berliner Combo, die sich außer ihm selbst allerdings aus den zugewanderten Rio Reiser und R.P.S. Lanrue (beide aus Nieder-Roden in Hessen) sowie Kai Sichtermann (aus dem hohen Norden) zusammensetzte. Seidel ist auf dem ersten Scherben-Album „Warum geht es mir so dreckig?“ (1971) zu hören, bevor sich die Wege trennten.
Sozusagen als Zeitzeuge hat er bereits 2016 das Buch „Wir müssen hier raus! – Krautrock, Free Beat, Reeducation“ veröffentlicht, das in diesem Jahr auch in der englischen Übersetzung plus Ergänzung unter dem Namen „Krautrock Eruption“ auf den Markt gekommen ist. Bei der Ergänzung handelt es sich um ein Kapitel mit einer Auswahl von Krautrock-Alben, die von Holger Adam beschrieben und kommentiert werden. Wobei dieses abschließende Kapitel den so treffenden Namen „Agree To Disagree“ (frei übersetzt ‚Wir sind uns einig, dass wir uns nicht einig sind“, Anm. d. Red.) trägt. Denn so wenig es bis heute eine eindeutige Definition darüber gibt, was nun eigentlich Krautrock ist und was nicht, so wenig wird es diese einerseits jemals geben und so wenig sind sich andererseits auch die Fans dieses Genres einig.
Um auf das Buch zu kommen, werden hier weniger die Geschichten einzelner Bands genauer beleuchtet, sondern vielmehr das Phänomen dieser
Stilrichtung, ihre Herkunft, aus was und aus welchen Beweggründen sie entstanden ist, beleuchtet. Der Autor nähert sich dem Thema oder – um es anders zu sagen – der Entstehungsgeschichte aus der Motivation damaliger Bands heraus, einerseits auf gar keinen Fall deutsch zu klingen und sich andererseits deutlich von der in unseren Landen seinerzeit vorherrschenden seichten Unterhaltungs-Industrie, sprich der ‚Die Welt ist schön‘-Einlullungstaktik des deutschen Schlagers abzugrenzen. Ein großes Augenmerk liegt deshalb in diesem Buch auch auf den Elektronik-Pionieren.
Auf diesem Weg entstanden durchaus interessante Bands mit bis in die heutige Zeit hochgelobten und beachteten Alben (wie beispielseise Can, Faust oder Tangerine Dream), natürlich trieb die neue Herangehensweise sowie das soziale Selbstverständnis innerhalb dieser Combos aber auch mal Stilblüten, die sich heute – wie damals schon – kaum jemand anhören kann (wie etwa Amon Düül, nicht zu verwechseln übrigens mit der musikalisch deutlich gehaltvolleren Absplitterung Amon Düül II). Und dann gingen viele deutsche Bands der damaligen Zeit dann doch wieder zu entspannteren, rockigeren Stilen über, wie man sie von den Acts aus England und Amerika kannte (z. B. Jane, Karthago oder Birth Control).
Aber wie bereits weiter oben erwähnt, wird hier weniger über die Bands und die Musik erzählt, sondern vielmehr über die Hintergründe und das soziale Klima, den Zeitgeist und die persönlichen Motivationen der damaligen Generation. Gut und sehr interessant zu lesen ist das Buch allemal und wenn man nicht komplett von der Erwartungshaltung kommt, dass hier die Karrieren der damaligen Protagonisten nacherzählt werden, wird man mit Sicherheit auch nicht enttäuscht werden. Wählen kann man nun zwischen den Sprachen Deutsch sowie Englisch und was die Platten im bereits weiter oben angesprochenen Kapitel „Agree To Disagree“ betrifft, ist der Rezensent ebenfalls voll dabei und kann sich der hier vertretenen Meinung zu manchen Alben so gar nicht anschließen. Aber das Schöne ist ja, dass man bei solchen Spielchen von zehn verschiedenen Leuten sowieso mindestens (!) sieben unterschiedliche Einschätzungen bekommen würde.
Herausgeber: Ventil Verlag, 1. Edition (2025)
Sprache: Englisch/Deutsch
Taschenbuch: 192 Seiten
ISBN-10: 395575233X
ISBN-13: 978-3955752330
Originaltitel: Wir müssen hier raus!
Abmessungen: 19.5 x 13 x 2 cm
Preis: 20,00 Euro