Eine Frau kniet sich auf den Gehweg und steckt eine rosa Rose in eine in den Boden gedrückte Trinkdose. Es ist Montagvormittag, der Tag danach. Am Sonntag, gegen 5 Uhr morgens, hat ein Polizist auf dem Weg zur Arbeit genau an dem Ort, in Gropiusstadt, am Mauerweg am Kölner Damm, auf der Höhe eines Pferdehofs, die Leiche eines Babys gefunden. Der Säugling war ein Mädchen. Es wurde laut Polizei geboren, getötet und in einem Beutel abgelegt.

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Am Montag gehen hier Menschen mit ihren Hunden spazieren, fahren mit Fahrrädern den asphaltierten Weg entlang. Manche bleiben einen Moment stehen und blicken auf die Blumen und die Kerze. Hinter den Bäumen ragen die Hochhäuser der Satellitenstadt in den Himmel, von weiter weg hört man Musik aus einer Wohnung. Die Staatsanwaltschaft sagte, es könne noch Wochen dauern, bis das Ergebnis einer forensisch-toxikologischen Untersuchung vorliege. Bisher ist die Identität der Mutter nicht bekannt, bislang wird nicht gegen sie ermittelt.

Anwohnerin: „Es gibt nicht weit entfernt hier eine Babyklappe“

Die Frau, die die Blumen niedergelegt hat, heißt Agnieszka Rogge, sie arbeitet in der Pflege. „Ich habe Gänsehaut, wenn ich an das tote Mädchen denke“, sagt die 53-Jährige. Als sie Sonntag um 6 Uhr zur Arbeit fuhr, habe sie schon die Polizei gesehen. Montagmorgen habe sie bereits zwei Blumen vorbeigebracht, Klatschmohn und eine Gerbera. Die Blumen habe sie gebracht, weil sie gläubig sei, erzählt sie.

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Ein paar Meter von ihr entfernt bleibt eine Frau stehen, die mit ihrem Hund Gassi geht. „Schlimm ist das“, ruft sie. Rogge nickt und sagt: „Das Baby kann nichts dafür.“

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„Man kann ja auch anonym entbinden im Krankenhaus und es gibt nicht weit entfernt hier eine Babyklappe“, ruft die Frau mit dem Hund. „Ich habe die ganze Nacht nicht schlafen können“, sagt Rogge. Die andere Frau schreit berlinernd: „Kaum geboren und schon getötet.“ Rogge ruft ihr zu: „Manche Frauen wollen Kinder und können keine bekommen. Schlimm, wenn man nicht weiß, was man hat, es nicht schätzt.“

Noch wisse man ja die Hintergründe nicht, war sie ungewollt schwanger? War es ein Gewaltverbrechen? Was auch immer, es hätte Möglichkeiten gegeben, sagt sie und fügt hinzu: „Der Täter hatte wohl keine Hemmschwelle, da muss einer verzweifelt gewesen sein.“ Die Frau mit dem Hund: „Auch wenn ich verzweifelt gewesen wäre, könnte ich sowas nicht machen“, und geht.

„So wenig Zeit für so wenig Leben“

Zwei Frauen, sie sind Cousinen und tragen ihre Kinder auf dem Arm, kommen gerade vom Kindergarten. Sie haben am Morgen die Kerze abstellt. „Ich wollte meine Anteilnahme zeigen“, sagt die eine. „Ich finde es total niedlich, dass der Pferdehof sich sogar einen Spruch hat einfallen lassen.“ Auf einem Stück Plastik, das mit einem Panzertape an der Dose klebt, steht: „So wenig Zeit für so wenig Leben.“ Unterzeichnet vom Pferdehof am Mauerweg.

In den Gebüschen um den Fundort suchen Polizisten mit Hunden nach Spuren. Für einige Minuten darf niemand den Mauerweg entlang gehen, damit die Hunde nicht abgelenkt werden.

Vernachlässigte Kinder in Gropiusstadt

Später kommt eine weitere Frau mit Hund vorbei, die in Gropiusstadt aufgewachsen ist. Sie heißt Sandra Kallenberg und ist 53 Jahre alt, eine Handwerkerin. „Alle, mit denen ich rede, sind schockiert“, sagt sie. Aber sie verstehe auch nicht, dass dieser Fall jetzt so sehr schockiert, anderswo würden jeden Tag hunderte Menschen sterben und niemand schaue hin. „Und in Gropiusstadt werden jeden Tag so viele Kinder vernachlässigt, die Eltern trinken, sind gewalttätig. Hier wohnen zu viele Menschen auf einem Fleck.“ Warum, fragt sie, müsse immer erst etwas so Schlimmes passieren, bis Leute aufmerksam werden?

Letztes Jahr gab es in Gropiusstadt eine Schießerei

Vor einem der Plattenbauten, direkt neben dem Fundort, geht eine Frau entlang. Sie sagt, ihre Kinder könnten hier schon sicher herumlaufen. Aber letztes Jahr habe es eine Schießerei gegeben. Und eine Anwohnerin, die gerade auf dem Weg hinein ist, sagt, sie habe am Sonntag die viele Polizei aus ihrem Fenster gesehen. Sie könne gar nicht sagen, wie die Stimmung im Haus sei, weil das Leben anonym sei. Bloß die direkten Nachbarn kenne sie. „Hier sind alle friedlich. Man grüßt sich, durch alle Communitys hindurch“, sagt sie.

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Der Hausmeister kommt vorbei und sagt, er wusste bisher nichts vom Tod des Babys. Ihn wundere die Tat aber nicht, er kenne ja die Leute hier und wisse, wo er arbeite. „Ich habe nur auf sowas gewartet.“ Dann erscheinen zwei Polizisten und kleben ein Plakat auf die Tür. „Toter Säugling“ steht da in großer, roter Schrift, dann die wenigen Details, die bisher bekannt sind – und die Bitte, Hinweise an die Polizei zu melden.