Chemnitz „glüht“ nach Bombenangriff
Fox 2-Heckschütze Joe Williams aus England schildert 40 Jahre später, dass das gesamte Zielgebiet unter den zahlreichen Feuern regelrecht „glühte“. Er erinnert sich auch, dass kaum etwas von der ansonsten bei den alliierten Bombercrews gefürchteten deutschen Flak zu sehen war. Dafür sind die deutschen Nachtjäger am Himmel aktiv. Kurz nachdem Williams über Bordfunk die Durchsagen des Bombenschützen seiner Maschine „Bomben los, Bombenklappen zu“ und „Lasst uns von hier verschwinden“ hört, sichtet er steuerbords einen zweimotorigen Jäger. Williams beschreibt in seinen Erinnerungen eine „Junkers 188“. Wahrscheinlicher ist, dass es sich um eine Ju 88 G-6 handelt – eines jener deutschen Kampfflugzeuge, die für die Nachtjagd genutzt werden. Diese Nachtjäger besitzen spezielle Ortungsgeräte und sind mit zwei im hinteren Rumpfbereich eingebauten, schräg nach oben feuernden 30mm-Maschinenkanonen ausgestattet.
Nachtjäger mit „Schräger Musik“
Diese als „Schräge Musik“ bezeichnete Bewaffnung hat den Vorteil, dass der Nachtjäger den Bomber von unten angreifen kann, wo er für dessen Heckschützen nicht zu treffen ist. Einen Bodenschützen wie bei schweren US-Bombern gibt es bei den britischen Lancaster-Bombern nicht. Heckschütze Williams ist sich der Gefahr bewusst. Der RAF-Sergeant macht seinem Piloten über Bordfunk Ansagen für diverse Flugmanöver, um den Nachtjäger in seinen Schussbereich zu bekommen. Doch all das hilft nichts. Wenig später hängt der Nachtjäger unter dem Bomber. Kurz darauf ruft ein Crewmitglied über Bordfunk: „Ich kann die Geschosse hören, sie schlagen entlang des gesamten Rumpfes ein.“ Schon fällt die Hydraulikleistung im Flugzeug ab, die Hydraulikleitungen brennen. Williams Heckkanzel fällt aus, seine Maschinengewehre ebenfalls. Sekunden später stehen beide Tragflächen der Lancaster mit ihren Treibstoff-Tanks in Flammen.
Absprung aus brennender Maschine
Der Kapitän von Fox 2 gibt der Crew den Befehl zum Fallschirmabsprung. Williams steckt in seiner Heckkanzel fest. Eine Tür klemmt. Als er sie schließlich aufdrücken kann, brennt es bereits im gesamten Flugzeug. Auch sein Fallschirm fängt Feuer. Der 22-Jährige rennt durch die züngelnden Flammen zum Cockpit, greift sich den letzten Ersatzfallschirm und steigt in letzter Sekunde durch die vordere Notluke aus. In „kompletter Stille“ schwebt er zur Erde. Weit unter sich hört er, wie Fox 2 auf den Boden kracht. „Das, wovor sich alle Bombercrews fürchten, war geschehen und ich war am Leben“, schreibt Williams später in seinen Erinnerungen. Allerdings hat er Verbrennungen erlitten. „Ich konnte verbranntes Fleisch riechen und ich fühlte, dass mein Gesicht mit sich ablösender Haut bedeckt war“, erinnert er sich 40 Jahre später.
Landung im Sudetenland
Der englische Bomber-Sergeant landet rund 50 Kilometer südlich von Chemnitz am Südrand des Erzgebirges im Sudetenland (heute Tschechien). Wegen seiner Verbrennungen benötigt er medizinische Hilfe. Nach anderthalb Kilometern zu Fuß erreicht Williams ein einzelnes Gehöft. Es gehört Wenzel Tautermann, Ortsbürgermeister von Ahrendorf im Landkreis Kaaden (tschechisch Kadaň). Tautermann ist der Großvater von Frieder Wittmann aus Meuselwitz in Ostthüringen. Dieser beschreibt seinen Opa als einen Menschen mit „humaner Gesinnung“, der sich stets um andere gekümmert habe. Williams begegnet Tautermann, als der gerade sein Toilettenhäuschen im Hof besucht. Der Sudetendeutsche erkennt, dass er es mit einem britischen Soldaten zu tun hat. Er nimmt ihn mit in sein Haus und sorgt dafür, dass dessen Brandwunden notversorgt werden.
Rettung aus misslicher Lage
Nach Angaben von Tautermanns Enkel, Frieder Wittmann, erklärt sein Opa dem Engländer, dass er ihn aber nicht verstecken könne, da die Gegend voller SS sei. Er habe ihm aber versprochen, dafür zu sorgen, dass er „überlebt“. Das ist für abgeschossene alliierte Flugzeugbesatzungen Anfang 1945 keineswegs selbstverständlich. Spätere Schätzungen gehen immerhin von bis zu 350 „Fliegermorden“ meist durch lokale NS-Funktionsträger in der Endphase des Zweiten Weltkriegs aus. Um zu verhindern, dass Williams ein ähnliches Schicksal erfährt, bringt Tautermann den englischen Bombenflieger persönlich zur nächsten Polizeiwache. Wie Tautermann nach dem Krieg seinem Enkel berichtet, habe ihm der Engländer damals versprochen: „Wenn ich überlebe, dann sehen wir uns wieder.“
Flucht aus Kriegsgefangenschaft
Und Williams überlebt. Über Kaaden und Eger (tschechisch Cheb) wird er per Zug nach Nürnberg gebracht. Auf dem Weg dorthin trifft er auf vier weitere überlebende Mitglieder der Fox 2-Crew. Sie erreichen Nürnberg nach einem US-Luftangriff, sehen „aus erster Hand die Zerstörungen des Bombenkriegs“ und gelangen unter ständigen „Tieffliegerangriffen“ nach Frankfurt. In Oberursel werden Williams und seine Kameraden wie Tausende andere abgeschossene Bombenflieger verhört. Schließlich landen alle im „Dulag [Durchgangslager] Luft“ in Wetzlar. Wegen der anrückenden Amerikaner werden sie von hier am 30. März nach Bayern verlegt. Hier gelingt Williams und einem seiner Fox 2-Kameraden ab dem 5. April die Flucht zu den US-Amerikanern. Über Darmstadt und Paris gelangen sie schließlich nach England zurück, wo die beiden britischen Bombenflieger am 8. Mai 1945 das Kriegsende erleben.
Rückkehr an die Absturzstelle
Fast 40 Jahre später kehrt Williams an die Orte seiner Rettung und Flucht zurück. 1981 besucht er Wetzlar, reist durch den „Eisernen Vorhang“ nach Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) und das ehemalige Ahrendorf bei Kadaň in der Tschechoslowakei. In einer Gaststätte trifft Williams einen der wenigen Sudetendeutschen, die 1945 nicht vertrieben wurden. Der bei Kriegsende 15-jährige Erich führt den ehemaligen Bombenflieger zur Absturzstelle von Fox 2. Dort erklärt er dem Engländer, dass seinerzeit unweit davon auch ein deutsches Jagdflugzeug abgestürzt sei. Williams nimmt an, dass es sich um jenen Nachtjäger gehandelt haben könnte, der zuvor seinen Lancaster-Bomber vom Himmel holte. „Erich sagte, dass die beiden Besatzungsmitglieder des Nachtjägers nicht überlebt haben. Etwas, dass mir nach so langer Zeit keinerlei Genugtuung bereitete“, schreibt Williams später. „Sie verteidigten ihre Heimat.“
Williams Retter starb in der DDR
Ein Wiedersehen mit seinem Retter Wenzel Tautermann gibt es für Wiliams bei seinem Besuch in der Tschechoslowakei 1981 aber nicht. Der Sudentendeutsche hatte sich nach seiner Vertreibung 1945 mit seiner Familie in der Nähe von Eisenberg in der späteren DDR niedergelassen, wo Tautermann bis zu seinem Tod 1985 lebt. Die Geschichte vom englischen „Bomber-Piloten“ erzählt er seinen Enkeln. Der Besuch des Engländers in Tautermanns alter Heimat bleibt dessen Nachkommen nicht verborgen. Sein Enkel Frieder Wittmann aus Meuselwitz erinnert sich: „Mitte der 80er-Jahre besuchte mich mein Cousin, der immer noch Kontakte nach Ahrendorf hatte. Er fragte mich, ob ich davon wüsste, dass ein Engländer in der dortigen Gaststätte war. Er habe sich nach dessen Namen und Adresse erkundigt, die wüssten aber nichts.“
Besuch in der britischen Botschaft
Als Wittmann im Sommer 1988 mit seiner Familie Urlaub in der DDR-Hauptstadt Berlin macht, entschließt er sich, in der britischen Botschaft nach Namen und Adresse des Engländers zu fanden. Ein nicht ungefährliches Unterfangen, nachdem zuvor DDR-Bürger über andere Botschaften ihre Ausreise erzwungen hatten. Wittmann ist umso erstaunter, als er die „British Embassy“ nach kurzem Suchen unbehelligt betreten kann. Als er die Dame am Empfang nach einem ehemaligen Flieger fragt, den sein Opa im März 1945 gerettet hat, habe die ihn erst komisch angeguckt. „Vermutlich dachte sie, ich bin von der Stasi“, schildert Wittmann die Situation. Doch dann habe sie den Diensthabenden gerufen. Der habe ihm zwei Zettel mit den Adressen der britischen Heilsarmee und dem Hauptquartier der britischen Luftwaffe in die Hand gedrückt.
Gesuchter Flieger meldet sich
Die Briefe an die beiden Behörden lässt Wittmann im Herbst 1988 über seine Großcousine im Westen versenden. Die britische Heilsarmee kann ihm nicht weiterhelfen. Doch im April 1989 meldet sich der gesuchte Flieger selbst. Joe Williams hatte von Wittmanns Suchanfrage aus einer Annonce in der britischen Fliegerzeitung erfahren. Im Mai 1990 kommt der Engländer nach Deutschland. Mit seinem Gastgeber besucht er Ahrendorf (tschechisch Pavlov), wo er sich Wittmann zufolge noch an manches Detail erinnern kann. 1991 besuchen Wittmann und seine Mutter, die dem englischen Flieger 1945 persönlich begegnet war, Williams in England. Zwischen den Familien des einstigen britischen Bombenfliegers Joe Williams und seines deutschen Retters Wenzel Tautermann entwickelt sich ein intensiver freundschaftlicher Kontakt, der erst nach dem Tod des Engländers 2013 abbricht.
Wie aus Gegnern Freunde wurden
Für beide Hauptdarsteller der Geschichte galt, was Frieder Wittmann rückblickend über seinen Großvater sagt: „Mein Opa hat in erster Linie den Menschen gesehen und nicht den Feind.“ Auch in Joe Williams Erinnerungen sucht man abschätzige Bemerkungen über die gegnerischen deutschen Jagdflieger und Flak-Soldaten vergebens. Nationalistische oder kriegerische Töne lagen dem ehemaligen britischen Bombenflieger fern, wie sich Wittmann erinnert. Ein Denkmal, das Williams gegen Ende seines Lebens am Beachy Head in East Sussex initiierte, sollte an die 55.573 Gefallenen der 110.000 Besatzungsmitglieder des RAF Bomber Command erinnern, ohne deren grausamen Tod zu glorifizieren. Williams wusste aus eigenen Erfahrungen, dass der Fliegertod in einem brennenden, abstürzenden Bomber alles andere als glorreich gewesen sein dürfte. Er hatte sein „Shot down in flames“-Erlebnis am 5. März 1945 mit unfassbar viel Glück und der Hilfe eines Deutschen überlebt. Das hat ihn zeitlebens geprägt.