Wie betitelt man so ein Buch, damit es nicht einfach untergeht in der Flut der Europa-Bücher? Nicht nur, weil es hier um Osteuropa geht. Ein Begriff, der in mehreren Beiträgen sehr kritisch beäugt wird. Denn einige der hier erfassten Länder begreifen sich nicht als Osteuropa, sondert als Mitteleuropa. Auch deshalb, weil sie seit über 1.000 Jahren europäische Geschichte mitgestalten. Immer mittendrin waren, wie Polen, Tschechien, Ungarn, aber auch die baltischen Länder. Aber diese Sammlung von 26 Beiträgen macht noch mehr deutlich. Sie beleuchtet auch die blinden Stellen in der westeuropäischen Sicht auf dieses Gebiet.
Ein Gebiet, das über Jahrhunderte in die Mühlen verschiedener Großmächte geriet, die hier ihre „Einflusssphären“ mit militärischer Gewalt definierten – allen voran Russland, das bis heute nicht aufgehört hat, sich als koloniale Großmacht zu inszenieren.
Weshalb auch in diesem Fall der Angriffskrieg gegen die Ukraine der Auslöser war für die beiden Herausgeber, Autorinnen und Autoren aus den Ländern des Ostens einzuladen, aus ihrer Perspektive über ihr Land und seine Rolle in Europa nachzudenken. Oder – wie es viele getan haben – die über die Jahrhunderte entstandene Eigensicht deutlich zu machen.
Unterm Mantel der Imperien
Denn eins ist Fakt: Für Westeuropa lag der komplette Osten nicht nur 40 Jahre lang hinterm Eisernen Vorhang, war das alles „sowjetischer Einflussbereich“, „Ostblock“, irgendwie auch schon „Sibirien“. Wie selbstverständlich ging man davon aus, dass die Großmacht Sowjetunion über alle diese Territorien verfügen dürfe, über die Menschen sowieso. Und dass das damit sowieso alles eins wäre, aber keine Welt eigenständiger Nationen.
Und diese Sicht war auch nicht neu. Denn auch in den Jahrhunderten davor lag diese Welt zumeist jenseits der westeuropäischen Wahrnehmung, war nicht eigenständig, kein Partner auf Augenhöhe, eher eine Ansammlung von unselbständigen Völkerschaften, die zu einem der großen Imperien gehörten, die sich hier breit gemacht hatten – so wie das Osmanische Reich, das Habsburger Reich, Russland und für einen Teil der Geschichte auch Preußen und Deutschland.
Diese Sicht auf die „nicht so wichtigen“ Völker und Länder im Osten sitzt tief. Und daran hat sich teilweise auch mit dem Beitritt mehrerer dieser Länder zur NATO und zur EU nicht wirklich viel geändert. Und das ist nicht nur fahrlässig. Es verstellt die Sicht auf gewaltige Potenziale. Auch da spielt der Krieg in der Ukraine inzwischen eine ganz zentrale Rolle, denn er hat Staaten wie Polen, Estland, Lettland und Litauen wieder einmal klargemacht, wie gefährdet sie sind, weil Russland wieder zurückgekehrt ist zur Politik des Imperiums.
Eine Politik, bei der sich selbst westeuropäische Politiker einreden lassen, dass Russland ein natürliches Recht auf eine Pufferzone von Staaten hat. Einigen dieser Staaten wird dabei auch gleich noch die eigene Staatlichkeit aberkannt, weil das in der imperialen Doktrin von der „russischen Erde“ nicht vorgesehen ist.
Das Gegenteil aber ist der Fall, was mehrere Autorinnen und Autoren nicht nur am Beispiel der Ukraine, von Belarus, Polen und den baltischen Staaten erläutern: All diese Nationen waren über Jahrhunderte Spielball der imperialen Mächte. Immer wieder rückten fremde Heerscharen ein und verhinderten die Bildung eines eigenen Staates und gingen dann systematisch daran – so wie Russland – in diesen Ländern die eigenständige Kultur und Sprache zu unterdrücken.
Wenn ein Putin jetzt der ehemaligen Sowjetunion nachtrauert, dann ist es die alte Vision eines russischen Imperiums, das seine Anrainerstaaten entweder ganz okkupiert oder in Vasallenstaaten verwandelt, die Moskau hörig sind.
Gefährdete Demokratie
Aber wie gesagt: Es sind keine westeuropäischen Autoren, die hier die Lage vor Ort mal wieder von der Seitenlinie aus betrachten, sondern Autoren, die sich in der Regel in diesen Ländern seit Jahrzehnten mit den Themen Eigenständigkeit, Souveränität und Demokratie beschäftigen. Auch sehr kritisch, was bei den Beiträgen zu Ungarn und der Slowakei deutlich wird, beides Länder, in denen sich trotz neu errungener Eigenständigkeit und EU-Mitgliedschaft ein neuer/alter Autoritarismus etabliert hat.
Was nicht nur zur Aushöhlung der demokratischen Institutionen in diesen Ländern geführt hat, sondern auch zu einem neuen Kuschelkurs mit Moskau. Ein echtes Problem für die EU. Denn ganz offen werden hier auch demokratisch Grundwerte demontiert, die eigentlich bindend für alle EU-Mitglieder sind.
Ein Thema, das auch am Beispiel Polen diskutiert wird, das unter der PiS-Regierung ebenfalls auf einem illiberalen Kurs war. Man merkt, dass einige Beiträge gleich 2022 entstanden sind, noch unterm Eindruck des von Moskau entfesselten Krieges, aber auch mit der Sorge darum, dass autoritäre Regierungen den Bestand der EU würden sprengen können. Eine Gefahr, die nicht wirklich gebannt ist, auch wenn in Polen heute wieder eine liberale Regierung arbeitet.
Der polnische Politikwissenschaftler Basil Kerski bringt dabei auch etwas auf den Punkt, was bei der Fixierung auf die Putinsche Weltsicht immer wieder vergessen wird: „Die Kenntnis des Epochenumbruchs von 1989/1991 und seine Bedeutung ist notwendig, um aktuelle Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa besser zu verstehen. Hier ist ganz aktuell hinzuzusetzen: Putins Angriff der Ukraine ist der Versuch, die demokratischen Folgen der Bürgerrevolutionen von 1989/1991 zurückzunehmen.
Der Kampf der Bürgerinnen und Bürger in Belarus, der Ukraine, in Moldawien oder den kaukasischen Staaten um Demokratie und nationale Unabhängigkeit ist heute die konsequente Fortsetzung der freiheitlichen Revolutionen der 1980er Jahre.“
Die Rückkehr der Autokraten
Die Welt steht nicht still. Und während westliche Autoren nach 1990 schon vom „Ende der Geschichte“ träumten und sich auch Deutschland nur zu gern in der wiedergewonnenen Einheit sonnte, erleben wir weltweit eine Rückkehr der Autoritären, versuchen Länder wie Russland die imperiale Uhr wieder zurückzudrehen. Und sie scheuen dabei auch nicht davor zurück, sich direkt in die Politik anderer Länder einzumischen – mit Geld, Sabotage, Propaganda.
Beim Lesen merkt man erst, warum die EU mit all ihren Werten und Grundrechten ein Feindbild der Autokraten ist. Und nicht nur der polnische Sozialwissenschaftler Marek Prawda erklärt, warum sich die Mitglieder der EU jetzt aufraffen müssen und die EU mit Leben erfüllen müssen. „Bislang waren wir am besten darin, das kollektive Glück zu verwalten. Aber der Urlaub von der Geopolitik ist nun vorbei. Wir bewegen uns immer weiter weg von einer regelbasierten internationalen Ordnung hin zu einem Konkurrenzkampf der Systeme. Wir haben erkannt, dass wir den Frieden und die Freiheit mit aller Kraft verteidigen müssen, weil wir sonst die Macht der anderen zu spüren bekommen.“
Und dass Länder wie Polen dabei eine ganz zentrale Rolle spielen, wird noch deutlicher, wenn man diesen „Zwischenraum“ auch historisch unter die Lupe nimmt. Zwischenraum aus westeuropäischer Sicht. Man wollte damit eigentlich nichts zu tun haben, nahm diese Länder Jahrhunderte lang nicht ernst, obwohl sie immer wieder um ihre Eigenständigkeit kämpften.
Und dabei im Stich gelassen wurden. Worauf zum Beispiel der ukrainische Germanist Jurko Prochasko eingeht, wenn er schreibt: „Dieses Mitteleuropa, das eine erstaunliche Fähigkeit besaß, mit Diversität und Komplexität auf engstem Raum umzugehen, dieses Mitteleuropa, in dem viele in der Zwischenkriegszeit geneigt waren, eine Keimzelle für eine künftige paneuropäische Gemeinschaft zu sehen, wurde von Hitler zerstört und diese Zerstörung ist von Stalin besiegelt oder, wie man meinte, vollendet worden. Und nach dieser großen Teilung Europas in Ost und West wurde Mitteleuropa vom geistigen, kulturellen und zivilisatorischen Europa abgeschnitten und zum Ostblock degradiert.“
Das wirkliche Ende des Krieges
Wer aus der ukrainischen Perspektive auf diese Geschichte sieht, sieht die Zerstörungen viel klarer. Aber interessant ist auch, dass auch die ostdeutsche Perspektive mit in diesen Band gehört. Darüber schreiben Wolfgang Templin und Wolfram Tschiche, die noch sehr gut wissen, wie sehr die ostdeutsche Bürgerbewegung mit den Bürgerrechtsbewegungen in Polen und der CSSR zusammenhing.
Denn dieser Aspekt geht fast unter in der heutigen deutsch-deutschen Rückschau auf die Friedliche Revolution. „Für die friedlichen Revolutionäre und alle, die ihnen auf den Straßen und Plätzen des Herbstes 1989 folgten, setzte das wirkliche Ende des Krieges erst jetzt ein“, schreibt Templin. „Während diese Entwicklungen dem einen Teil Europas Freiheit und Wohlstand brachten, wurde der andere Teil für die Verbrechen der Vergangenheit jahrzehntelang in Beugehaft gehalten.“
Und so darf auch wahrgenommen werden, wie sehr man in den letzten 35 Jahren die Emanzipation der osteuropäischen Länder ignoriert hat. Einfach nicht für voll genommen. Lieber setzte man auf neoliberale Schocktherapien, weil man glaubte, die Staaten Ost- und Mitteleuropas müssten über Nacht in totale Marktwirtschaften umgewandelt werden. Mit verheerenden Folgen auch in der Wahrnehmung der EU durch die Osteuropäer. Dass in einigen dieser Länder autoritäre Parteien die Macht erlangen konnten, hat auch mit diesem Schock zu tun.
Oder um noch einmal Wolfgang Templin zu zitieren: „Es war grenzenlose Anmaßung, Hybris, zu glauben, dass die mit 1989 gewonnene individuelle und gesellschaftliche Freiheit allein im Vertrauen auf die Kraft des Marktes zu sichern sei. Soziale Verantwortung und die richtige Verbindung von Freiheit und Gerechtigkeit hintanzustellen, rächte sich bitter.“
Neue Souveränitäten
Stoff genug, um über den aktuellen Zustand der europäischen Staatengemeinschaft nachzudenken. Und darüber, wie sie sich ändern muss. Und wie der Westen seinen Blick auf die Länder im Osten verändern muss. Denn er lässt sich immer noch viel zu leicht von den imperialen Argumenten aus dem Kreml blenden, als hätte irgendein Staat der Welt heute nach wie vor den berechtigten Anspruch auf eine Pufferzone höriger Randstaaten.
Darin steckt so viel Verachtung für den Wunsch der „dazwischen liegenden“ Länder und Völker nach Souveränität und Freiheit, dass man nur den Kopf schütteln kann über diese Gewohnheits-Ignoranz. Die Stimmen in diesem Buch machen hingegen deutlich, wie sehr diese Völker um ihre Selbstbestimmung und eine eigenständige Rolle in einem freien Europa ringen. Auch wenn dieses Ringen manchmal – wie im Fall Belarus – nur in der Emigration formuliert werden darf.
Es ist ein kompaktes Buch geworden, das den unvoreingenommenen Lesern zeigt, wie die Menschen in Ost- und Mitteleuropa auf ihre eigene Nationalität, auf Demokratie und europäische Gemeinsamkeiten schauen. All das deutet der Buchtitel nur an. Auch wenn er mit dem Eisernen Vorhang eine jener Barrieren benennt, die jahrzehnte-, oft jahrhundertelang den Blick auf diese Nationen im Osten verstellte.
Maik Reichel, Wolfram Tschiche (Hrsg.) „Durch den Eisernen Vorhang nach Europa. Osteuropa nach 1989“ Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2024, 49 Euro.