„Wenn ich ein kleiner, hübscher Vogel wär“, singt der Chor, und sofort freut man sich auf sein Flattern. Doch weil wir in der Probe sind, darf Florian Helgath direkt intervenieren. „Ihr singt das schön, aber der Vogel fliegt nicht.“ Der Chorleiter möchte in diesem Satz aus Brahms‘ „Liebeslieder-Walzern“ jede Bodenhaftung heraus- und etwas mehr Duft hineinbekommen. Damit es perfekt einheitlich klingt, müssen die 24 Sängerinnen und Sänger den Text erst mal sprechen. Dann wird es mit Musik wiederholt. Und höre da: Plötzlich zwitschert sie. Und der Hörer erlebt 24 singende Mauersegler in der ehrwürdigen Dampfgebläsehalle im Bochumer Landschaftspark West.

Chorwerk Ruhr, dieses famose Vokalensemble mit Sitz in Bochum, das von Regional- und NRW-Mitteln getragen wird, ist natürlich ein kleiner, hübscher Vogel, wenn die Partitur das befiehlt. Aber dieses Team aus Berufssängern kann von jetzt auf gleich auch eine Verschwörergruppe, eine Büßergemeinde oder ein Rudel jugendlicher Verliebter sein. Hauptsache, ihnen gelingt die vollkommen austarierte Einheitlichkeit von Klang, Haltung, Deklamation und Artikulation. Helgath kann da auf liebenswürdige Weise pingelig sein und in einer Stelle minutenlang rumpulen, bis er endlich lobt: „Jetzt war’s super!“ Normalverbraucherchöre hätten längst mit dem Kopf geschüttelt: Wo war denn da der Unterschied?

Das ist der Punkt: Solche Proben schulen das Ohr zu einem unzufriedenen Sinnesorgan. Nicht schnell besoffen sein vom sängerischen Glück, bloß weil Chorwerk Ruhr auch im Rohzustand erhebend klingt: ein strahlend-schlanker Sopran, ein delikat geerdeter Alt, ein brillant-agiler Tenor, ein sonorer, aber nie orgelnder Bass. Nein, erst wenn alles gebastelt ist und dem anspruchsvollen Qualitätsbegriff des Chorleiters genügt, dann ist es auch wirklich gut.

Momentan befindet sich Chorwerk Ruhr in einem leicht surrealen Aggregatzustand – in diesem Jahr wird es 25 Jahre alt und feiert das mit einer Reihe von Jubiläumskonzerten unter dem anspielungsreichen Titel „Zwischen den Tönen“. Kann das wirklich sein? Schon ein Vierteljahrhundert alt? Betagt ist in dieser Bochumer Probe nur der Raum, es ist die Dampfgebläsehalle gleich neben der Jahrhunderthalle, eine der Industrieruinen, die durch zahllose Aufführungen bei der Ruhrtriennale wieder zu leben und atmen begannen. Die Geschichte von Chorwerk Ruhr ist eng verknüpft mit diesem ungewöhnlichen und längst weltweit etablierten Festival, doch führt das Ensemble längst ein Eigenleben und ist für Gastkonzerte und Tourneen weit begehrt. Vor allem erstaunt stets aufs Neue seine Wandlungsfähigkeit, mit der es sich wie mit der Zeitmaschine durch die Jahrhunderte und Stile beamt. Dabei gibt es – wie in Brahms‘ „Neuen Liebesliedern“ – immer wieder auch solistische Ausflüge. In der Philosophie des Chores ist Besetzungsvielfalt ein zentraler Lehrsatz.

Wenn Florian Helgath musiziert, herrscht nie Verbiesterung, sondern ein motivierender, positiver Geist. Selbst wenn er über Minuten unzufrieden ist, mault er nicht, obschon ein Bayer wie er schon granteln könnte. Nein, bei Helgath ist stets völlig klar, dass das Problem in ein paar Sekunden gelöst sein wird. Der Chor schätzt die Kompetenz seines Chefs, in den lebenden Klang gleichsam radiologisch hineinzuhören und den entzündeten Stellen mit einem Tipp („Bässe mehr Obertöne“) eine Spontanheilung zukommen zu lassen. Manches braucht ein wenig länger.

Helgath zählt ohne Zweifel zu den begehrtesten Cracks seiner Branche. Als Bub war er selbst Regensburger Domspatz, später wollte er Schulmusiker werden und studierte das Fach auch – bis er an der Münchner Musikhochschule aus berufenem Munde gefragt wurde: „Und warum machen Sie nicht Chorleitung?“ Die Experten war sich einig, dass Helgath das Chorleiter-Gen hat, ein sozusagen unbestechliches Gehör, für jede Musik eine Klangidee und vor allem: Neugierde. Chorischer Jazz, Barockmusik, experimentelle Moderne: Helgath liebt diese Bandbreite, seit er denken kann. Mittlerweile ist er Europa-weit gefragt, bei vielen Rundfunkchören sowieso (Rias, SWR, BR, MDR, Radio France, Hilversum) und auch bei der Zürcher Sing-Akademie, deren fester Dirigent er ist. Seit 2024 bekleidet er die Professur für Chorleitung an der Münchner Musikhochschule.

Francis Poulencs „Sept Chansons“ stehen ebenfalls auf dem Jubiläumsprogramm. Bei der Probe geht es um die korrekte Aussprache („Alle bitte denselben Vokal“), aber auch um blitzschnelle Gestaltwechsel. Am Ende des ersten Chansons sehnt jemand seine Geliebte herbei, um sie kräftig in den Arm zu nehmen. Dieser Arm zeigt seine Muskeln in einem finalen A-Dur-Nonenakkord. Sofort schwingt Poulenc beim zweiten Lied um zu „Adieu tristesse“ und zu einem düsterem f-Moll. Dieser Beleuchtungswechsel darf nicht klacken, man darf keine Irritation spüren. Schon jetzt klingt es großartig, doch ist Helgath eine Pause zu lang: „Atmet hier mal nicht, macht nur eine Zäsur!“, wünscht er sich. Ein paar Takte später ist ihm der Klang noch nicht geschlossen genug. Dann tönt ihm der Tenor zu offen oder muss der Bass bei einer fiesen Passage ausgestimmt werden.

Doch dieses Probieren fruchtet schnell. Und plötzlich geht über Helgaths Gesicht wieder ein Strahlen, er schaut zur steinalten Decke der Dampfgebläsehalle, alles klingt nun herrlich – seine 24 singenden Mauersegler sind ihm federleicht gefolgt.