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Seite 1Kehrtwende aus Angst vor Farage
Seite 2″Insel der Fremden“
Soll man ihm glauben?, fragen jetzt die einen. Kann das
sein Ernst sein?, kritisieren die anderen. Was der britische Premier Keir Starmer am Montag zur künftigen Einwanderungspolitik seiner Labour-Regierung
sagte, war jedenfalls für die meisten Britinnen und Briten eine gehörige
Überraschung, für seine Gegner ebenso wie für viele seiner Anhänger.
Ein „elendes Kapitel“ für Politik und Wirtschaft müsse
beendet werden, verkündete der Premier auf einer Pressekonferenz in London. Und
meinte damit: „Wir müssen die Einwanderung deutlich reduzieren.“ Dabei gehe es
ihm nicht nur um eine Veränderung bei den Zahlen, sondern auch um eine in den
Köpfen. Manche würden glauben, dass Einwanderungskontrolle in eine
Art natürliche Freiheit eingreife, anstatt sie als eine grundlegende und
vernünftige Verantwortung der Regierung zu sehen, sagte Starmer: „Jahrelang scheint dies unser Denken
verwirrt zu haben. Aber lassen Sie mich klar sagen: Das endet jetzt.“
Um zu verstehen, warum der Labour-Chef bei diesem heiklen
Thema in eine Art Zeitenwende-Klaviatur greift, muss man sich zwei Entwicklungen
vor Augen halten. Zum einen hat die Zuwanderung nach Großbritannien seit dem
Brexit-Votum von 2016 nicht etwa abgenommen. Sie hat vielmehr neue Rekordhöhen
erreicht. Im Jahr von Juni 2022 bis Juni 2023 wanderten netto 906.000 Menschen
ein, also nach Abzug derer, die im selben Zeitraum auswanderten. Im Folgejahr
waren es 728.000 Menschen. Diese Zahlen betreffen nur die legale Zuwanderung,
also Menschen, die ein Arbeits- oder Studienvisum erhalten haben.
Johnson fürchtete sich vor den Brexit-Folgen
Den Anstieg hat die konservative Regierung von Boris Johnson zu verantworten. Sie fürchtete, dass
dem Land infolge des Brexits und der Coronapandemie buchstäblich die
ausländischen Lastwagenfahrer oder Pflegekräfte abhandenkommen würden. Johnson
liberalisierte die Visabestimmungen daraufhin so weit, dass deutlich mehr
Zuwanderer als erwartet, vor allem aus Afrika und dem indischen Subkontinent, nach
Großbritannien kamen, oft mit ihren Angehörigen.
© Lea Dohle
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Eines der Kernversprechen des Brexits, „take back control“
über die Zuwanderung, wurde also zwar erfüllt – aber im genau gegenteiligen
Sinne dessen, was die Brexit-Befürworter im Sinn hatten. Statt die Zuwanderung
zu verringern, wie es nicht nur die Brexiteers, sondern jede Regierung der
vergangenen 15 Jahre versprochen hatte, nahm sie stark zu. „Wir werden“, sagt
Keir Starmer jetzt, „endgültig zu dem stehen, was ‚take back control‘ bedeutet,
und beginnen auszuwählen, wer hierherkommt, damit Zuwanderung unseren
nationalen Interessen dient.“
Die zweite Rekordzahl, die es zum Verständnis dieser Wende
braucht, sind die Erfolge von Reform UK. Die neue Partei des ehemaligen
Anführers der Brexit-Bewegung, Nigel Farage, führt nicht nur die nationalen
Umfragen an. Sie hat bei den englischen Lokalwahlen am 1. Mai auch so viele
Sitze gewonnen, dass sie – wären morgen Parlamentswahlen – die stärkste Partei
werden würde. Farage hat also, Stand heute, echte Chancen, 2029 der nächste
britische Premierminister zu werden.