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Beim „Tag des Sieges“ lief die Kreml-Propaganda auf Hochtouren. Doch wer genau hinschaute, konnte eine Botschaft ausmachen, die Wladimir Putin nicht gefallen dürfte. Meint Wladimir Kaminer.

Während in Moskau vergangene Woche auf dem Roten Platz Soldaten aus mehr als einem Dutzend Ländern bedrohlich marschierten und nordkoreanische Generäle mit Putin feierten, saßen wir im schönen Brandenburg und hörten uns eine Radiosendung über Maiglöckchen an. „Im Frühling erwacht die Flora und Fauna aus ihrer Winterruhe“, sagte die fröhliche Radiostimme. „Die Pflanzen beginnen zu blühen und die Tiere kehren von ihrer Wanderung zurück.“

Und wir Menschen? Was machen wir im Frühling? Wir sind auch Fauna, die allerdings ihre Flora auffrisst und begonnen hat, sich selbst zu vernichten. Wir kennen keine Winterruhe und kein Frühlingserwachen mehr, es wird Tag und Nacht marschiert, vorwärts ins Ungewisse. Der frisch geschlüpfte Bundeskanzler flog sofort nach Kiew und hatte von dort gemeinsam mit europäischen Kollegen aus der „Koalition der Willigen“ von den Russen eine 30-tägige Feuerpause verlangt.

(Quelle: Frank May)

Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit Jahrzehnten in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört „Russendisko„. Sein neuestes Buch „Mahlzeit! Geschichten von Europas Tischen“ erschien am 28. August 2024.

Die Russen reagierten verächtlich und lehnten ab. Die Militärparade zum „Tag des Sieges“ wurde in Moskau als überaus gelungen gewertet, Vertreter aus 29 Ländern waren anwesend, auch Robert Fico und Aleksandar Vučić waren als Putins slowakisch-serbischer Zweisitzer in Moskau gelandet. Die Welt ist auf unserer Seite, behauptete der russische Regierungssprecher, es wird brav weitermarschiert.

Einen Tag vor der Militärparade rief die Schwiegermutter aus dem Nordkaukasus an: „Bei uns im Fernsehen haben sie Selenskyj gezeigt, er droht damit, den Roten Platz während der Parade zu sprengen. Ist das nicht ungerecht? Dort auf der Tribüne stehen doch unschuldige Menschen!“ Ich dachte insgeheim: „Es wäre nicht schlecht, eine ganz bestimmte Tribüne zu sprengen, das wird aber nicht passieren.“ Dann stimmte ich der Schwiegermutter zu.

Die große Ungerechtigkeit jedes Krieges ist, dass die Unschuldigen als Erstes draufgehen. Für Kriegstreiber wie Putin ist es hingegen wie beim Russisch Roulette, man kann in diesem Spiel gar nicht verlieren: Entweder gewinnt man oder es ist eben kein Gegner mehr da. Ich musste die Schwiegermutter beruhigen, ihr sagen, dass Selenskyj übertreibe. Moskau hatte sich auf den Feiertag gut vorbereitet, Luftabwehr aus dem ganzen Land in die Hauptstadt verlegt.

Außerdem hatten die Russen etwas Besseres als Raketenabwehr, sie hatten den Genossen Xi Jinping auf der Festbühne, den Herrscher der östlichen Himmelssphäre. Xi ist zurzeit der beste Schutz gegen alle Luftangriffe. Solange er dasteht, wird nicht geschossen. Es ist nämlich längst ein offenes Geheimnis: Der schlaue Chinese „liefert“ verlässlich „Waffen“ – so Zubehör für Drohnen – an beide Kriegsparteien, er verkauft an Russen und an Ukrainer. Seine Lieferungen sind nicht von irgendwelchen Sanktionen, Launen des US-Präsidenten oder europäischen Wahlergebnissen abhängig. China ist zuverlässig, zurückhaltend und leistet seinen „Partnern“ gern palliative Hilfe zum angemessenen Preis.

Deswegen war es für Moskau von großer Bedeutung, dass Xi gleich für vier Nächte in Moskau gebucht hat, es war ein langer Besuch eines chinesischen Führers im russischen Ausland. Während der Militärparade stand er wie ein Primus inter Pares in einer langen Reihe von Politikern, die wir nach dem Gespräch mit der Schwiegermutter „Koalition der Unschuldigen“ nannten: die Staatschefs von Laos und Eritrea, Guinea-Bissau, Venezuela und Turkmenistan, Ägypten und Belarus etwa.

Mit einem Wort: alle, die bei Putin in der Kreide stehen oder ihre Loyalität bei dieser Gelegenheit monetisieren wollten. Ihre Anwesenheit wurde auch hochgeschätzt. So hatte Kuba, die Heimat des karibischen Sozialismus, von Putin einen Scheck im Wert von einer Milliarde Dollar erhalten, immerhin rund zwei Prozent des kubanischen Bruttoinlandsprodukts für eine Stunde Parade-Angucken. Kein schlechter Deal für die Insel der sozialistischen Freiheit, das hätte sich auch Trump gedacht.

Etwas war wirklich schade: Neben den erwähnten „Unschuldigen“ saßen auch echte Veteranen des letzten Weltkriegs auf der Tribüne und ließen sich für eine unrechte Sache instrumentalisieren. Und das, obwohl die mittlere Lebenserwartung für Männer in Russland bei 67 Jahren liegt und der jüngste Veteran um die hundert Jahre alt sein müsste. Eine Volksweisheit besagt, dass Menschen, die viel erlebt und gelitten haben, ein langes Leben leben, damit sie den nächsten Generationen vom Schrecken des Krieges berichten und warnen können.