Stand: 16.05.2025 06:00 Uhr

Svealena Kutschke erzählt in „Gespensterfische“ aus 100 Jahren deutscher Psychiatriegeschichte von 1920 bis in die Gegenwart. Episodische Einblicke in viele Lebensgeschichten, die miteinander verflochten sind.

von Andrea Ring

Sie traut sich selbst nicht. Auf Kassetten schneidet Laura heimlich ihre Gespräche mit, um zu vergleichen, was sie wahrnimmt und was wirklich ist. „Als die dünnen Fäden zur Wirklichkeit rissen“, heißt es poetisch, kommt Laura in die Lübecker Jannsen-Klinik. Trotzdem: Es klingt nicht unbedingt nach psychiatrischem Befund, eher nach philosophischer Reflexion, wie Svealena Kutschke sich in die Figur einfühlt. „Ich glaube, dass jedes Denken einer gewissen Logik entspricht oder einer Folgerichtigkeit. Dieser inneren Logik kann man beim Schreiben vertrauen“, erklärt die Autorin, warum gesund und krank nicht so einfach zu unterscheiden seien.

Von Gespensterfischen und menschlichen Abgründen

Für die titelgebenden Gespensterfische ist der junge Pfleger Lukas verantwortlich, der eigentlich Meeresbiologie studieren wollte. Unwirklich anmutende Wesen der Tiefsee, in deren durchsichtigen Köpfen grüne Augäpfel schillern:

Im Laufe der Evolution hatten die Tiere sich an die unwirtlichen Bedingungen angepasst, manche generierten sogar ihr eigenes Licht. Lukas Weber sah die meisten Neurosen oder Psychosen als Anpassungsleistung an ein unwirtliches Umfeld. Aber geh‘ mit solchen Gedanken mal zur diensthabenden Psychologin.
Leseprobe

Oder zur adipösen Mutter, deren dissoziative Schübe nach einer Horror-Zeit im Kinderheim die Psychiatrie nicht heilen kann. Über Jahre mit schweren Medikamenten sediert, wie es auch in der Jannsen-Klinik üblich war und Olga Rehfeld, einer der zentralen Figuren, widerfahren ist. „Rehfeld, die ihr ganzes Leben in der Psychiatrie verbringen muss, ist eigentlich eine der gesündesten Personen des ganzen Romans“, erzählt Kutschke.

Vom eigenen Mann, der die Klinik leitet, in den 1930er-Jahren eingewiesen, weil sie lieber lyrische Texte schreibt als Kinder zu kriegen. Das Motiv folgt der Diskriminierung weiblicher Homosexualität im Nationalsozialismus. „Dass so eine Kinderlosigkeit eigentlich einer unterdrückten Homosexualität entspringt, ist eine ganz eigenartige These“, findet Kutschke. „Tatsächlich ist Rehfeld auch homosexuell, ich bin nur davon überzeugt, dass sie zu der Zeit, als ihr Mann ihr das andichtet, das noch gar nicht weiß.“

Anders als ihre Freundin Noll, deren Bartstoppeln ihr biologisches Geschlecht nur einmal diskret andeuten. „Noll wurde immer wieder eingewiesen wegen ihrer Transgender-Identität. Und die beiden finden dann eine späte Liebe.“ Was Kutschke wiederum über die gemeinsame Liebe der beiden zur Literatur zart, ja zärtlich erzählt. Die Autorin weiß mehr über ihre Figuren, als sie verrät: „Ich wollte den Figuren ihre Geheimnisse lassen.“

Wie zuverlässig sind Erinnerungen?

Logisch auch, begründet Svealena Kutschke ihre Strategie, auf Lücke zu erzählen – weil sie selbst sich nicht erinnern. Was im Grunde genommen normal ist: „Die Frage nach der Zuverlässigkeit von Erinnerung ist durchaus etwas, was extrem verunsichernd ist, weil unsere Erinnerung nicht läuft wie eine Videokamera, weil Erinnerung sich überschreibt.“

Gleichzeitig liegt darin die große Freiheit, meint Svealena Kutschke, sich seine Geschichte immer neu zu erzählen: „Aber ich verstehe auch meine Figuren, die neurotisch verängstigt werden durch dieses Konzept. Dass man Dinge vergisst, ist tendenziell beunruhigend.“

Klug beobachtet und gut geschrieben

Es ist ein bisschen wie Zuhören, beschreibt Kutschke die Arbeit am Roman. Als wären es echte Personen, deren Geschichten sie in kurzen, prägnanten Kapiteln erzählt, die zwischen den Jahrzehnten hin und her springen: „Mir sind sehr viele Figuren sehr nah. Der alte weiße Mann hat genauso viele Anteile von mir wie die queere Person oder die alte Dame. Das ist oft die große Freude beim Schreiben: sich in ganz ganz unterschiedliche Figuren hineinzudenken und ihnen nahe zu kommen.“

Es ist auch die große Freude beim Lesen. Manchmal ist es doch too much, wenn eigentlich keine Figur ohne Trauma, Ängste und Neurosen davonzukommen scheint. Klingt deprimierend – ist es aber nicht. Weil es klug beobachtet und, jenseits von Klischees, gut geschrieben ist.

Gespensterfische

von Svealena Kutschke

Seitenzahl:
224 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Schöffling
Bestellnummer:
978-3-89561-363-0
Preis:
24 €

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16.05.2025 | 12:40 Uhr

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