In Bernardine Evaristos kontrafaktischem Roman Blondes Herz“ wird die Kolonialgeschichte umgekehrt: Afrikaner versklaven Europäer. Eine satirisch zugespitzte Welt, in der weiße Menschen unter afrikanischer Herrschaft leiden. Im Zentrum steht Doris, eine versklavte Europäerin – Symbol für Identitätsfragen, Machtverhältnisse und Perspektivwechsel.

Die Welt in diesem Roman steht Kopf. Weiß ist schwarz. Afrika und Europa haben die Plätze getauscht, Opfer sind Täter geworden. Denn Bernardine Evaristo spielt mutig mit Geschichte und Geografie, um einen frischen Blick auf den transatlantischen Sklavenhandel zu ermöglichen.

Europa ist in dieser kontrafaktischen Erzählung also der graue Kontinent, immer wolkenverhangen – gerade an der „Kohlkopfküste“, an der mutige Kolonisatoren aus „Aphrika“ landen, um unzivilisierte Europäer aus ihrer eigenen Wildheit zu führen.

Zu diesem Zweck pferchen sie sie auf Schiffen zusammen und verschleppen sie nach „Aphrika“. Dort – auf dem sonnigen Kontinent – angekommen, sind die blassen Männer und Frauen zwar nicht mehr frei, aber immerhin auf zivilisiertem Boden. Die Erzählung ist historisch verbrieft, nur die Rollen musste Bernardine Evaristo umkehren.

Bernardine Evaristo:
Für mich als Autorin war es ein großer Spaß. Denn sobald ich diese Idee hatte: Afrikaner fühlen sich den Europäern überlegen, versklaven sie und die Geografie ist auch noch auf den Kopf gestellt, sodass das „Vereinigte Königreich von Großambossanien“ die Zentrale des Sklavenhandels ist, bei dem Europäer versklavt werden, die aus Europa kommen, wo eigentlich Afrika liegt… Sobald ich diese Idee hatte, machte es einfach Spaß, damit zu spielen. Der Roman ist Satire.“

Der Witz des Romans steckt im Detail. Bernardine Evaristo hat enorme Freude am Ausgestalten der verkehrten Welt: Welches Essen würde als minderwertig gelten, wenn nicht das weiße Europa den Ton in der internationalen Küche angäbe? Was gälte als schön, was als hässlich, wenn sich schwarze Menschen zu den gnadenlosesten Kolonisatoren aufgeschwungen hätten?

In einer der witzigsten Szenen des Romans landet die Ich-Erzählerin Doris – eine Europäerin, die als Kind verschifft und versklavt wurde – in einem Friseursalon, in dem es schmalzinkige Kämme speziell für „schwer zu bändigendes, feines Flatterhaar“ wie ihres gibt. Der Selbsthass, von dem Schwarze in den USA und Europa so oft berichten, ein Selbsthass, der sich in der Realität oft im Glätten und Bleichen von schwarzem Haar ausdrückt, ist in diesem Buch Teil einer weißen Geschichte.

Bernardine Evaristo:
Mein Modell für Doris war Gwyneth Paltrow in ihrer Blütezeit. Als ich mit dem Roman anfing, das ist jetzt 23, 24 Jahre her, war sie ein Musterbild weißer Schönheit. Sehr dünn, feine Gesichtszüge, langes, glattes blondes Haar. Und ich dachte mir: Meine Figur soll aussehen wie sie, aber in der schwarzen Welt ihrer Sklavenhalter wird das als hässlich angesehen.“

Die Detail-Arbeit der Weltverkehrung hat bei Bernardine Evaristo auch sprachliche und erzählerische Qualität: Doris etwa wird als Sklavin umbenannt in Omorenomwara – „Doris“ ist unaussprechlich für ihre Herren: Den Namen zu benutzen wird also die absolute Ausnahme, ein Akt der Selbstbehauptung, der – wie in historischen Erzählungen von Sklaven – von enormer Bedeutung ist.

„Bitte sag Doris zu mir. Ich bin Doris. Mein Name ist Doris.“
Er lächelte breit und gab sich alle Mühe, meinen richtigen Namen auszusprechen, langsam und mit betretener Miene machte er drei lange Silben daraus, und seine Zunge stolperte über die fremdartigen Laute. Als er es schließlich geschafft hatte, wirkte er sehr zufrieden. Es war wirklich allerliebst.
„Doooraaascha“, sagte er.
Herrje.

Doris’ Master verfasst derweil „Die Flamme“, eine Propaganda-Schrift, um Sklavenhandel und Kolonialismus pseudowissenschaftlich zu legitimieren, und klingt – ein schwarzer Mann – wie ein britischer Kolonialherr aus dem 18. Jahrhundert:

Bernardine Evaristo:
Bwana stammt aus dem Königreich Großambossanien, ein Spiegelbild von Großbritannien. Aber er spricht mit der Stimme eines Briten aus der Upper Class – solche Männer haben diese Texte ja geschrieben. Insofern afrikanisiere ich die europäische Rechtfertigung des Sklavenhandels, aber ich tue es mit Hilfe eines schwarzen Afrikaners, der wie ein Vertreter der englischen Oberschicht klingt.“

Der Roman „Blondes Herz“ ist insofern ein literarisches Labor, in dem die eigenen Emotionen, Reaktionen auf dem Seziertisch ausgebreitet werden: Wie unbefangen traue ich mich zu lachen, wenn plötzlich ein Schwarzer Sklavenhalter ist und menschenverachtende Lügen erzählt? Und wenn ich lache, über wen dann eigentlich? Mit wem habe ich Mitleid, wenn ich von Doris lese?

Mit der weißen Versklavten, von der hier wortwörtlich geschrieben ist, oder mit den Millionen von Schwarzen, auf deren Schicksal Doris’ Geschichte eigentlich abzieht? Wie ändert sich Identifikation, Mitleid mit einer versklavten Figur, wenn sie keinen Namen trägt, den ich nur ungelenk aussprechen könnte, sondern einen vertrauten Namen wie Doris?

Bernardine Evaristo:
Für weiße Leser ist da immer die Frage: Worüber lache ich hier? Das Buch kann dich fertigmachen, es sind da so viele Schichten – und deshalb weiß ich es zu schätzen, wenn Leser nicht wissen, wie sie reagieren sollen.“

Bernardine Evaristo - Blondes Herz

Bernardine Evaristo – Blondes Herz

Blondes Herz
Aus dem Englischen von Tanja Handels

Autor:
Bernardine Evaristo
Genre:
Roman
Verlag:
Tropen (288 Seiten, 25 Euro)
Erscheinungsdatum:
17.05.2025
ISBN:
978-3-608-50275-6

Bernardine Evaristo beweist schon mit diesem frühen Roman, dass sie eine durch und durch originelle Autorin ist, eine Autorin, die das literarische Experiment sucht, einen Weg, ihre Fragen auf eine Art durchzuspielen, die vor ihr niemand getestet hat. Und sie beweist, dass sie bei aller Experimentierfreude nie aus dem Blick verliert, was einen Roman im Kern zusammenhält: eine Figur aus Fleisch und Blut.

Denn genau das ist Doris, diese Frau – widerspenstig und meinungsstark, komplex und verwirrend –, die auch als Sklavin beides erlebt: den Horror des Lebens und das große Glück, am Leben zu sein.