Stand: 18.05.2025 06:00 Uhr

Ein charmanter Bildband der verstorbenen Tata Ronkholz versammelt die schönsten Trinkhallen Deutschlands, die die Fotografin zwischen 1977 und 1984 aufgenommen hat.

von Janek Wiechers

Der Begriff „Trinkhalle“ ist heutzutage kaum noch in Gebrauch. Er meint einen Kiosk, ein kleines Lädchen, der Lieblingsort von Bierdurstigen und Lottospielern, Kindern auf der Suche nach Naschkram oder Leserinnen auf der Suche nach Zeitschriften. In Berlin heißen die Trinkhallen „Späti“, im Hannoverschen „Nebgen-Bude“, im Ruhrpott „Seltersbude“ – und im Rheinischen „Büdchen“.

Bildband zeigt 130 abwechslungsreiche Trinkhallen

Ein Garagen-artiges Häuschen irgendwo in einem Wohngebiet. Hinter den trüben Fenstern stehen sorgsam aufgereiht Getränkeflaschen. Draußen, auf einem schmalen Brett, warten Limonadenflaschen und Lakritzstangen auf Kundschaft. Ein schmaler Kaugummiautomat hängt an der Fassade. Daneben ein vergitterter Zigarettenautomat und eine Eiskarte. Darüber: Leuchtschilder mit Schriftzügen: Trinkhalle, Coca-Cola, die Namen lokaler Biermarken. Ferner Zeitungsreklame und Mülleimer mit Eiswerbung. Das ist eine der rund 130 Trinkhallen aus dem Fotoband.

Jede ist anders, jede ein Unikat. Trinkhallen haben große Gemeinsamkeiten – in Form und Format, Funktion und Sortiment, doch sie sehen nie gleich aus. Vielleicht mal ähnlich, aber nicht zum Verwechseln; einen Prototyp, eine Standardausführung gibt es nicht.
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Fotografie einer brünetten Frau © Tata Ronkholz, VAN HAM Art Estate 2025


Tata Ronkholz war Schülerin an der Düsseldorfer Kunstakademie.

Das schreibt der Kulturjournalist Andreas Rossmann im Begleittext zum Bildband „Trinkhallen“. Tata Ronkholz hat die Bilder zwischen 1977 und 1984 vor allem im Rheinischen und im Ruhrgebiet aufgenommen. Fotos, die genauso gut überall in Deutschland hätten entstehen können. Und die immer wieder staunen lassen: Zeigt das Buch doch ein vermeintlich profanes Motiv abwechslungsreich und spannend. Als liebenswürdigen Ort, der stets individuell gestaltet ist:

Die Notwendigkeit, sich einzufügen und sich anzupassen, auch sich unterzuordnen, lässt die Trinkhalle sehr verschiedene, nicht selten eigenwillige oder sogar skurrile Formen annehmen, denen, auch wenn sie bereits vom Alter gekennzeichnet sind, das Signum des Temporären und Provisorischen anhaftet.
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Mal wirken sie überladen, mal schlicht und unscheinbar. Mal sind sie untergebracht in Baracken oder in wacklig-wirkenden Bretterbuden verortet. Mal sind sie eingeklemmt zwischen anderen Gebäuden, dann wieder finden sie sich freistehend, an Straßenecken, oder eingebettet in größere Fassaden.

„Ich wollte das Büdchen in seiner ganzen Liebenswürdigkeit zeigen“

In der Anordnung der Schriftzüge, Aufsteller, Zeitschriften und Süßigkeiten spiegeln die Trinkhallen immer auch die ästhetischen Vorstellungen der jeweiligen Besitzer wider. Warum sich Tata Ronkholz eine Zeit lang so intensiv mit ausgerechnet diesem Motiv beschäftigt hat, belegt ein Zitat von ihr:

Ausgangspunkt war für mich nicht die Nostalgie, sondern die Gegenwärtigkeit von Dingen. Mir ging es weder um einen sozialen Aspekt, noch um das Design, sondern ich fühlte mich zum Alltag hingezogen. Ich wollte das Büdchen in seiner ganzen Liebenswürdigkeit zeigen. (…). Ihre Besitzer kamen ohne Architekten oder Dekorateure aus.
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Tata Ronkholz‘ Interesse kam nicht von ungefähr: Die gelernte Schreinerin und studierte Innenarchitektin arbeitete zunächst als Produktdesignerin. Erst später, schon fast 40-jährig, fing sie an, sich mit Fotografie zu befassen. Sie wurde Schülerin an der Düsseldorfer Kunstakademie in der Klasse von Bernd Becher – als Mitstudentin von Andreas Gursky und Thomas Ruff. Während diese beiden weltberühmt wurden, blieb Ronkholz lange Zeit nur einem kleinen Kreis bekannt. Das ändert sich gerade.

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Aufgeschlagene Bücher © Vladimir Melnikov fotolia Foto: Vladimir Melnikov

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Ronkholz‘ Fotos dokumentieren die Zeit vor 40 Jahren

Interessant ist, was die Bilder heute beim Betrachter auslösen. Zum Beispiel Erinnerungen: an den Duft von Tabakwaren und Druckerschwärze, an längst verschwundene Zigarettenmarken, an den Geschmack saurer Weingummis und Brausepulver, an die Aufregung beim Kauf der „Bravo“. An unheimliche Trinker oder hoffnungsvoll ausgefüllte Lottoscheine. In Tata Ronkholz‘ Kiosk-Fotografien sind universelle Erfahrungen konserviert, die auch in Georgsmarienhütte, Kiel, Hannover oder Buxtehude angesiedelt sein könnten.

Barbara Hofmann-Johnson, Leiterin des Museums für Fotografie Braunschweig, kümmert sich wissenschaftlich um den Nachlass von Tata Ronkholz: „Diese Bandbreite und auch diese Herangehensweise sich mit einem auf gleicher Höhe befindlichen Straßenblick anzunähern – das hat einen besonderen Charme im Unprätentiösen. Und erzählt aber unglaublich viel über unsere Gesellschaft. So eine Ebene, die wir heute nochmal anders sehen aus dem Rückblick. Das sind 40 Jahre, dass diese Bilder entstanden sind.“

Die Fantasie anregende Aufnahmen

Die Fotos sind größtenteils schwarz-weiß, aufgenommen mit einer Großformatkamera und dadurch unheimlich detailreich. Fast immer platzierte Ronkholz die Motive in der Mitte des Bildes, nahm sie frontal von vorne auf. Sie wirken dadurch sehr sachlich, fast wie eine Grafik. Bis auf wenige Ausnahmen sind nie Menschen auf den Fotos abgebildet – was aber ungeheuer die Fantasie anregt.

Man fragt sich unweigerlich: Wer mag da gleich vorbeikommen, um noch schnell eine Dose Ravioli zu kaufen, um beim Bier einen Plausch mit dem Nachbarn zu halten oder mit verschämt-gesenktem Blick ein Schmuddelheft zu erwerben? Tata Ronkholz‘ Kioskbilder sind aufgeladen mit tausenden Geschichten, Dialogen und Begebenheiten – darin liegt ihr großer Reiz.

Trinkhallen

von Tata Ronkholz

Seitenzahl:
192 Seiten
Genre:
Bildband
Verlag:
Buchhandlung Walther König
Bestellnummer:
978-3753303260
Preis:
49,80 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur |
Der Sonntag |
18.05.2025 | 12:20 Uhr

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