Frau Kallas, vergangenes Jahr haben Sie das Amt gewechselt – von der Premierministerin Estlands zur EU-Außenbeauftragten und Vizepräsidentin der Kommission. Was war dabei die größte Herausforderung?
Als Premierministerin musste ich mich mit drei Parteien in meiner Koalition einigen. Bei der EU muss ich mit 27 Mitgliedstaaten eine gemeinsame Position finden.
Sie sind eine Frau klarer Worte und werden dafür teilweise sehr harsch kritisiert. Man hat Sie zum Beispiel der „Russophobie“ bezichtigt und Ihnen vorgeworfen, „Russen zum Frühstück zu essen“. Wie gehen Sie damit um?
Meine Tage sind komplett durchgeplant. Ich habe also gar keine Zeit, um mir über Anfeindungen den Kopf zu zerbrechen.
In meinem Beruf ist es wichtig, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Als Politikerin wird man permanent kritisiert. Wer davor Angst hat, kann diesen Job nicht machen. Kritik hat aber auch eine positive Seite: Sie zeigt einem, dass man etwas bewirkt. Wer nur auf seinen Händen sitzt, bekommt wenig Gegenwind. Gerade in turbulenten Zeiten wie diesen ist Untätigkeit sehr gefährlich.
Zur Person
© Arno Mikkor/Lennart Meri Conference
Kaja Kallas, 47, ist EU-Außenbeauftragte und Vizepräsidentin der Kommission. Von 2021 bis 2024 war sie Premierministerin von Estland. Zuvor gehörte sie von 2014 bis 2018 als Abgeordnete dem Europäischen Parlament an.
Die ehemalige Rechtsanwältin ist Mitglied der liberalen Estnischen Reformpartei, deren Vorsitzende sie von 2018 bis 2024 war. Sie ist verheiratet und hat drei Kinder. Das Gespräch wurde am Rande der Lennart Meri Conference in Tallinn geführt.
Wie prägt Ihre estnische Herkunft Ihre politische Haltung?
Freiheit kann man erst richtig verstehen, wenn sie einem genommen wurde. Vorher empfindet man sie als Selbstverständlichkeit. Meine Großeltern lebten anfangs noch in Freiheit. Doch sie wurden ihrer beraubt, als die Sowjetunion Estland 1940 besetzte.
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Ich stamme aus einer Generation, die während der Besatzung geboren wurde. Bis ich ein Teenager war, kannten wir keine Freiheit. Mit dem Fall der Sowjetunion waren wir plötzlich frei. Aber die Erinnerung an die Zeit wird mich für immer prägen. Wenn ich als Politikerin eine klare Linie gegen Russland verfolge, dann tue ich das auch, damit niemand mehr das erleiden muss, was der Generation meiner Großeltern widerfahren ist.
Für den Frieden braucht es zwei Parteien, für Krieg nur eine. Und Putin will eindeutig Krieg.
Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas zum Ukrainekrieg
Wann haben Sie sich entschlossen, in die Politik zu gehen?
Mein Vater Siim Kallas war – wie ich jetzt auch – Premierminister Estlands und Vizepräsident der EU-Kommission. Viele haben von mir erwartet, dass ich in seine Fußstapfen treten würde.
Lange Zeit habe ich mich dagegen gewehrt. Ich habe Jura studiert und als Rechtsanwältin gearbeitet. Ich habe Menschen rechtlichen Rat erteilt und dabei gemerkt, wenn Gesetze nicht gerecht waren. Und mir wurde klar: Wenn ich sie ändern will, muss ich Politikerin werden. Der rechtliche Rahmen bestimmt maßgeblich, wie unsere Gesellschaft organisiert ist und unser tägliches Leben läuft. Er ist auch entscheidend für meinen Kampf für die Freiheit.
Die Verhandlungen in Istanbul am vergangenen Freitag geben kaum Anlass zur Hoffnung, dass Russland seinen Krieg in der Ukraine bald beenden könnte. Was könnte den Durchbruch bringen?
Spätestens jetzt muss jedem klar sein, dass Russland ein perfides Spiel betreibt. Seit zwei Monaten ist die Ukraine bereit, einem bedingungslosen Waffenstillstand zuzustimmen. Für den Frieden braucht es zwei Parteien, für Krieg nur eine. Und Putin will eindeutig Krieg.
Einen Durchbruch könnten wir mit deutlich verschärften Sanktionen erzielen – so, wie sie der US-Senator Lindsey Graham gerade fordert. Um das Töten zu beenden, muss man auf denjenigen einwirken, der tötet. Gemeinsam können Europäer und Amerikaner genug Druck auf Russland ausüben, um diesen Krieg zu beenden.
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Der Gesetzentwurf von Senator Graham sieht unter anderem Zölle in Höhe von 500 Prozent für Importe aus Ländern vor, die Öl, Gas und andere kritische Güter aus Russland beziehen.
Ja, es wären sehr weitreichende Maßnahmen. Wir diskutieren in der Kommission bereits, wie wir das in der EU nachmachen könnten. Kommissionspräsidentin von der Leyen hat auch bereits ein weiteres Sanktionspaket angekündigt, das auch Sanktionen gegen Nord Stream 1 und 2 sowie den russischen Finanzsektor umfassen und die Preisobergrenze für Öl senken soll.
Die USA sind unser wichtigster Verbündeter. Daran hat sich nichts geändert, auch wenn wir gerade schwere Zeiten erleben. Wir müssen einen Weg finden, damit umzugehen.
Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas
Was ist mit Blick auf Nord Stream geplant?
Die Pipeline ist ja bislang nicht in Betrieb genommen worden. Es wäre daher ein vorsorglicher Schritt, um zu verhindern, dass sie künftig überhaupt genutzt wird, um Energie nach Europa zu liefern.
Unter der ersten Trump-Administration wollten die USA Nord Stream noch um jeden Preis verhindern.
Ja. Absurderweise haben wir zuletzt von verschiedenen Seiten einige Bemühungen beobachtet, die darauf hindeuten, dass an einer Inbetriebnahme gearbeitet wird. Dagegen müssen wir uns wappnen.
Es ist ein weiteres Indiz für den schwierigen Zustand, in dem sich die transatlantischen Beziehungen befinden. Können wir den USA aktuell noch vertrauen?
Die USA sind unser wichtigster Verbündeter. Daran hat sich nichts geändert, auch wenn wir gerade schwere Zeiten erleben. Wir müssen einen Weg finden, damit umzugehen.
Es darf keine Alleingänge geben. Sobald einzelne EU-Mitglieder anfangen, eigene Deals mit den USA zu machen, wird es schwierig.
Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas
Wie könnte der aussehen?
Wir müssen einen kühlen Kopf behalten. Das gilt gerade, wenn wir mit den USA über Zölle verhandeln. Es muss uns bewusst sein, dass gerade die ganze Welt auf uns blickt. Denn wir sind für viele Länder der größte und interessanteste Handelspartner. Und einer, mit dem man faire und verlässliche Vereinbarungen treffen kann.
Im Verhältnis zu den USA ist für uns Europäer entscheidend, dass wir zusammenstehen und eine Einheit bilden. Präsident Trump hat deutlich gesagt, dass er die EU nicht mag. Wir müssen immer im Hinterkopf behalten, warum das so ist.
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Nämlich?
Wenn wir als EU an einem Strang ziehen, sind wir sehr stark. Daher schätzen es unsere Gegner – und manchmal auch unsere Partner – nicht, wenn wir gemeinsam handeln. Das zeigt ganz klar: Es darf keine Alleingänge geben. Sobald einzelne EU-Mitglieder anfangen, eigene Deals mit den USA zu machen, wird es schwierig. Nur gemeinsam können wir auf Augenhöhe mit den USA verhandeln.
Trump geschlossen entgegenzutreten, ist angesichts der wachsenden Spaltung innerhalb der EU aber leichter gesagt als getan, oder?
Ich bin da nicht so pessimistisch. Wir haben es bis hierhin ja auch geschafft. Wir sind 27 demokratische Staaten. In Demokratien diskutiert und streitet man, das ist normal. Aber am Ende haben wir in der EU bislang immer eine Einigung erzielt. Und das stimmt mich hoffnungsvoll.
Auch mit Blick auf den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán?
Das ist in der Tat oft schwierig, aber auch nicht immer. Im Moment sieht es zum Beispiel danach aus, dass die EU-Außenminister am Dienstag in Brüssel geschlossen für das 17. Sanktionspaket gegen Russland stimmen werden.
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Allerdings hat Orbán wiederholt Entscheidungen der EU durch sein Veto blockiert. Befürchten Sie angesichts des Erstarkens illiberaler Kräfte in Ländern wie Rumänien und der Slowakei einen Dominoeffekt?
Ja. Daher diskutiere ich mit meinen Kollegen auch seit einiger Zeit über die Entscheidungsprozesse innerhalb der EU. Die EU-Verträge besagen nicht, dass wir für alles Einstimmigkeit benötigen. Wir legen das derzeit sehr weit aus, weil wir jeden mitnehmen wollten. Aber wir sollten die Verträge so anwenden, wie sie ursprünglich gedacht waren. Und das heißt, dass Exekutiventscheidungen – zum Beispiel die Sanktionierung bestimmter Personen oder Unternehmen – mit einer qualifizierten Mehrheit der Mitglieder getroffen werden können.
Sollte sich Großbritannien erneut um eine EU-Mitgliedschaft bewerben, wird das zu unseren Konditionen sein.
Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas
Welche Wirkung zeigt die Unterstützung durch US-Präsident Donald Trump, seinen Vize JD Vance und Elon Musk für rechtsextreme Kräfte in Europa?
Wer bei uns gewählt wird, entscheiden die Menschen in Europa, genauso wie es in den USA die Amerikaner tun. Eine Einmischung von außen in unsere internen Angelegenheiten ist nicht hinnehmbar. In der EU waren wir in dieser Hinsicht immer sehr klar. Natürlich empfindet man für gewisse Parteien mehr Sympathien als für andere. Aber wir Europäer haben nicht zu entscheiden, wer der nächste Präsident der USA wird. Wir arbeiten mit der Person, die gewählt wird.
In Deutschland hat insbesondere die Unterstützung, die Vance und Musk für die AfD geäußert haben, für Irritationen gesorgt. Wie sollten die Europäer reagieren?
Jeder Mensch hat – unabhängig von seiner Macht – das Recht, sich für oder gegen jemanden auszusprechen. Wenn man wie Elon Musk mit X Eigentümer einer großen digitalen Plattform ist, hat das allerdings noch eine ganz andere Dimension. Die Plattformen müssen sich an die Regeln europäischer Gesetze über digitale Dienste halten. Sie dürfen nicht Algorithmen manipulieren, um Wahlen zu beeinflussen.
Trumps Kommunikation wirkt gelegentlich grotesk. Mal lässt er sich als nächsten Papst abbilden, mal zeigt er den Gazastreifen als goldenes Trump-Land. Handelt er rational?
Politiker bedienen sich unterschiedlicher Instrumente, um Aufmerksamkeit zu erhalten. Jeder hat da seine eigene Art.
Ein mittels künstlicher Intelligenz angefertigtes Bild von Donald Trump als Papst. Der US-Präsident teilte es über seinen Social-Media-Account.
© Reuters/@realDonaldTrump/Handout
An diesem Montag findet das erste Gipfeltreffen zwischen der EU und Großbritannien seit dem Brexit statt. Kommt es nun wieder zur Annäherung?
Die Wunden des Brexits sind immer noch frisch, aber Stabilität und Sicherheit in Europa gelingen nur gemeinsam. Daher konzentrieren wir uns im Moment unter anderem auf den Abschluss der geplanten Verteidigungspartnerschaft. Großbritannien und die EU müssen in diesen geopolitisch schwierigen Zeiten zusammenhalten. Aber die Verhandlungen laufen, während wir hier sprechen. Nichts ist final, bis es vereinbart ist.
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Könnte Großbritannien wieder EU-Mitglied werden?
Das müssen die Briten entscheiden. Sollte sich Großbritannien erneut um eine EU-Mitgliedschaft bewerben, wird das allerdings zu unseren Konditionen sein. Sie können nicht einfach da weiter machen, wo sie vor dem Brexit aufgehört haben.
Das steht aktuell aber gar nicht zur Debatte. Für beide Seiten ist es derzeit entscheidend, die Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU zu stärken.