Das kleine Estland sieht sich einem riesigen aggressiven Nachbarn gegenüber. Darum gibt es anteilig dreimal so viel für seine Verteidigung aus wie Deutschland.

BILD sprach mit Esten-Verteidigungsminister Hanno Pevkur über die russische Bedrohung, steigende Verteidigungsausgaben und das Versagen des Westens in der Ukraine.

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BILD: „Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius sagt, Russland könnte die Nato schon 2029 angreifen. Sie stehen an vorderster Front. Haben Sie Angst vor einem russischen Angriff?“

Hanno Pevkur: „Wenn ich als Verteidigungsminister Angst vor Russland hätte, würde ich wohl nicht hier sitzen. Ich habe keine Angst vor Russland, aber ich bin pragmatisch. Ich schaue mir die Informationen an, die mir unsere Experten, der Geheimdienst und unsere Verbündeten liefern.

Die Realität ist: Wenn der Krieg in der Ukraine vorbei ist, wird Russland seine Kräfte umverteilen. Laut ihres Planes wollen sie die Truppenstärke auf 1,5 Millionen erhöhen. Sie verstärken viele Divisionen in unserer Nachbarschaft, bringen neue Ausrüstung, Panzer, Kampfhubschrauber.

Aktuell trainiert Estland bei „Operation Igel“ die Verteidigung des Landes gegen einen russischen Angriff

Aktuell trainiert Estland bei der „Operation Igel“ die Verteidigung des Landes gegen einen russischen Angriff

Foto: Quelle: Julian Röpcke

Darauf müssen wir reagieren – gemeinsam mit unseren Verbündeten. Deshalb erhöht Estland ab 2026 die Verteidigungsausgaben auf 5,4 Prozent. Deshalb gibt es derzeit die größte Nato-Übung mit 18.000 Soldaten. Deshalb investieren wir massiv in neue Fähigkeiten.“

„Die rund 800.000 russischen Soldaten in der Ukraine werden nicht einfach nach Hause gehen“

Sie sagen, wenn der Krieg in der Ukraine vorbei ist, wird Russland umverteilen und im schlimmsten Fall Estland angreifen. Bedeutet das, Sie sind nicht glücklich über die ganzen Diskussionen über einen baldigen Diktatfrieden?

Pevkur: „Natürlich wollen wir alle, dass der Krieg endet. Aber wir verstehen auch: Die rund 800.000 russischen Soldaten in der Ukraine werden nicht einfach nach Hause gehen, um von 200 Euro im Monat zu leben. Die werden wahrscheinlich weiter von der russischen Armee bezahlt, aktuell bekommen sie 2000 bis 3000 Euro im Monat. Das bedeutet: Die Bedrohung für uns wird im Fall eines Endes der Kämpfe in der Ukraine steigen.“

Sind Sie vor diesem Hintergrund als kleines Land auf einen möglichen russischen Angriff vorbereitet?

Pevkur: „Ich glaube, Estland ist eines der am besten vorbereiteten Länder in der Nato. Wir haben die Wehrpflicht, eine Kriegsstruktur mit fast 44.000 Soldaten. Diese Kampfdivision können wir in weniger als 48 Stunden zusammenziehen. Ich kenne wenige Länder, die so schnell so viele Kräfte mobilisieren können. Zudem haben wir heute 32 Verbündete und zusammen viel mehr Feuerkraft als die Russen.“

Lieber im Frieden 5 Prozent ausgeben als 20 Prozent im Krieg

Sie sprachen von 5,4 Prozent Verteidigungshaushalt im nächsten Jahr. Das wird mehr als dreimal so viel sein, wie Deutschland ausgibt. Wie schaffen Sie das? Wo sparen Sie stattdessen? Und wie erklären Sie das Ihrer Bevölkerung?

Pevkur: „Ehrlichkeit ist das Wichtigste. Wir sagen offen, dass die russische Bedrohung real ist. Das darf man nicht verschweigen. Den Weg zu 5,4 Prozent zu schaffen war nicht einfach, es waren harte Entscheidungen. Wir haben an vielen Stellen gespart, eine sogenannte Sicherheitssteuer eingeführt. Das alles ist schwer für die Gesellschaft, aber wir verstehen alle: Es ist viel günstiger, heute im Frieden 5 Prozent zu investieren als später 20 Prozent im Krieg oder gar kämpfen zu müssen.“

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Sie sagen, Ehrlichkeit ist wichtig. Aber in Deutschland führt ehrliche Rede über die russische Bedrohung und notwendige steigende Verteidigungsausgaben oft dazu, dass extreme Parteien noch mehr Prozente holen. Haben Sie Tipps für deutsche Politiker, wie sie diesen Spagat hinbekommen?

Pevkur: „Ich kenne Boris Pistorius gut, wir haben ein gutes Verhältnis, und ich finde, seine Botschaften sind klar. Aber es braucht Zeit, der Bevölkerung solche Themen zu erklären. Ich hoffe, dieses Interview hilft zu verstehen, warum es wichtig ist, für Freiheit zu kämpfen. Freiheit wird nie geschenkt, man muss sie jeden Tag verteidigen – und seine Bedrohungen kennen.

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Foto: Getty Images

Europa hat lange gehofft, Russland würde ein normales, demokratisches Land werden. Nach dem Zerfall der Sowjetunion gab es Hoffnung, aber seit der Jahrtausendwende hat sich das radikal geändert: Georgien, Krim, jetzt der große Krieg in der Ukraine – alle 6 bis 8 Jahre greift Russland seine Nachbarn an.

Das zeigt: Der Wunsch der russischen Führung, das Imperium wieder aufzubauen, ist nicht verschwunden. Deshalb müssen wir ehrlich sein und gemeinsam eine starke Abschreckung senden – und bereit sein, unsere Länder zu verteidigen.“

BILD-Reporter Julian Röpcke (links) traf Hanno Pevkur im estnischen Verteidigungsministerium in Tallinn

Hanno Pevkur (r.) empfing BILD-Reporter Julian Röpcke zum Interview im estnischen Verteidigungsministerium in Tallinn

Foto: Luca Wittkowski

„Nein, wir haben für die Ukraine nicht genug getan“

Estland ist ein großer Unterstützer der Ukraine. Aber nach fast dreieinhalb Jahre Krieg sieht es so aus, als würde Russland den Krieg langsam aber sicher gewinnen. Meine Frage an Sie als westlicher Verteidigungsminister: Haben wir genug getan, um die Ukraine zu retten?

Pevkur: „Nein, wir haben nicht genug getan. Es gab eine klare Chance für die ukrainische Armee, mehr Gebiet zurückzuerobern, zum Beispiel während der Gegenoffensive in Charkiw, als sie noch nicht die ganze Ausrüstung hatten, die wir jetzt liefern. Auch den Vorschlag Estlands, 0,25 Prozent des BIP jedes Landes in die ukrainische Verteidigung zu investieren, haben viele Länder bislang nicht umgesetzt. Also nein, wir tun nicht genug.