Die rund 6000 Menschen, die in Berlin auf der Straße leben, können in aller Regel nicht wie andere einfach einen Termin beim Haus- oder Zahnarzt buchen. Oft haben sie keinen Versicherungsstatus. Das kann viele Gründe haben. Zum Beispiel, weil sie sich illegal im Land aufhalten oder nirgendwo gemeldet sind. Gingen sie zu einer Regelpraxis, müsste die sie auf eigene Kosten behandeln.
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Robert steht am Stralauer Platz vor einer Praxis für wohnungslose Menschen. Er arbeitet als sogenannter Obdachlosenlotse. Sein Job ist es, Bedürftige beim Alltäglichen zu begleiten, etwa zu Ämtern oder Botschaften. Das fällt Menschen, die auf der Straße leben, schwer, weil viele nicht Deutsch sprechen oder nicht lesen und schreiben können. Die meisten von ihnen stammen aus Osteuropa.
55.000
wohnungslose Menschen soll es in Berlin geben. Davon leben geschätzt 6000 Personen auf der Straße.
Der 51-Jährige ist Pole, Fremdsprachenprofi und damit wie gemacht für den Job: Robert spricht Ukrainisch, Russisch, Polnisch, Hebräisch und Deutsch. Er blickt in Richtung einer Gruppe Männer, die unweit von ihm an der Straße stehen, und pfeift. Sie gehen langsam auf ihn und den Reporter zu, der ihn ums Dolmetschen gebeten hatte: Wie wichtig die Arztpraxis für sie sei, will dieser gerne wissen. Robert übersetzt die Frage ins Ukrainische. Zwei Männer strecken den Daumen hoch. „Toller Arzt.“ Als sie wieder wegschlurfen, sagt Robert: „Dem einen mussten sie die Zehen amputieren, einfach weggefroren. Der andere war mal Gangster.“
Ein Defizit von 60.000 Euro
Robert bekommt sein Geld über das „Solidarische Grundeinkommen“ – das Modellprojekt läuft allerdings in ein paar Monaten aus. Das verweist auf ein Problem, das der Gebewo, dem Träger der hiesigen Praxis, und anderen in der Stadt am meisten zu schaffen macht: Wegen fehlender Zuwendungen sind sie auf prekär Beschäftigte angewiesen, unter anderem Straftäter:innen, die sich zu gemeinnütziger Arbeit verpflichten, sowie auf viele Ehrenamtliche. Fast alle Ärzt:innen, die hier arbeiten, machen es unentgeltlich.
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Robert, 51, arbeitet als Obdachlosenlotse in der Arztpraxis.
© Simon Schwarz
Sozialarbeiterin Christin Recknagel ist die Leiterin des Hauses. Sie zeigt, wo überall Geld fehlt: Die Duschen schimmeln, die Praxis ist nicht rollstuhlgerecht. Die Küche stehe seit mehr als einem Jahr kalt, weil es nicht genug Ein-Euro-Jobber:innen gebe. Ordentlich anstellen könne sie das Personal häufig nicht – das gäben die Bilanzen nicht her. „Pro Jahr haben wir ein Defizit von 60.000 Euro. Das müssen wir mit Spenden auffüllen.“ Zuwendungen erhält der Träger von zwei Senatsverwaltungen und dem Bezirksamt.
Gesundheitsbericht veröffentlicht
Am Montag hat ein Bündnis aus Wohnungslosenhilfe, Ärzte- und Klinikvertretern sowie dem Berliner Senat einen Bericht zur gesundheitlichen Versorgung der Obdachlosen in der Hauptstadt vorgestellt. Zusammenfassen lässt sich dieser wie folgt: Das Geld ist knapp, die Versorgung prekär, den wohnungslosen Menschen geht es oft erbärmlich auf der Straße.
Pro Jahr haben wir ein Defizit von 60.000 Euro. Das müssen wir mit Spenden auffüllen.
Christin Recknagel, Einrichtungsleiterin der Praxis am Stralauer Platz
Seit Veröffentlichung des ersten Berichts im Jahr 2018 habe sich manches immerhin verbessert. Seit einiger Zeit gibt es eine Clearingstelle für Nicht-Krankenversicherte, eine Art Anlaufpunkt. Zudem gibt es eine Krankenwohnung für obdachlose Menschen.
Jetzt müssten die Träger nur noch ausfinanziert werden. Die Landesgesundheitskonferenz hatte dazu bereits im Dezember mehrere Modelle vorgeschlagen für ein sogenanntes „niedrigschwelliges ambulantes Versorgungssystem“. Gesundheitssenatorin Ina Czyborra (SPD) bezog sich am Montag darauf, sagte allerdings, mit diesen sei nicht früher als 2028/2029 zu rechnen.
Ein ehemaliger Schiffarzt
In der Praxis am Stralauer Platz werden sie also vorerst weiter den Mangel verwalten müssen. Wie so oft halten ein gutes Team und der Hang zur Selbstausbeutung den finanziell wackeligen Laden zusammen.
Wer kommt in die Praxis?
Die Praxis am Stralauer Platz richtet sich vor allem an obdachlose Menschen in prekären Lebensverhältnissen, also jene, die 24 Stunden am Tag auf der Straße leben. Die Patient:innen können in den Räumlichkeiten duschen, zur Toilette gehen, sich ausruhen und sich neu einkleiden. Die Kantine hat wegen Personalmangel seit mehr als einem Jahr geschlossen.
„Zu uns kommen die Menschen mit den gleichen Beschwerden wie in eine normale Hausarztpraxis“, sagt Leiterin Recknagel: Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Erkältungen. „Allerdings sind die Erkrankungen, die wir sehen, weiter fortgeschritten. Die Patienten können sich nicht auskurieren.“ Öfter als in einer normalen Hausarztpraxis haben die Patient:innen am Stralauer Platz Hautverletzungen, Parasitenbefall, schwere Infektionen und psychische Erkrankungen.
Kerstin ist schon seit 32 Jahren Teil des Teams. Die Krankenschwester hat eine normale Anstellung, bekommt im Krankheitsfall also Lohnfortzahlung. „Ich komme gerne zur Arbeit, es macht großen Spaß“, erzählt sie. Der ärztliche Kollege Uljan Zöba, der heute im Dienst ist – er ist seit 25 Jahren mit dabei –, jobbt im Gegensatz zu ihr nur nebenberuflich in der Praxis. Viel Geld bekommt er nicht. Eigentlich betreibt er einen privatärztlichen Notdienst. Warum kommt er schon so lange hierher, obwohl er kaum Geld bekommt?
Kerstin ist Krankenschwester in der Arztpraxis am Stralauer Platz.
© Simon Schwarz
„Ich kam damals nach Berlin, machte meine Facharztausbildung und fing nebenbei an, hier zu arbeiten. Ich habe nie aufgehört damit. Ich kann alle Behandlungen machen, das macht Spaß“, sagt der Ukrainer. Zuvor hätte er als Schiffsarzt auf einem Fischerboot angeheuert und da alles machen müssen, Zähne ziehen, das ganze Programm, er sei bis in die Antarktis geschippert, erzählt er.
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Zöba ist 66 Jahre alt und wird bald 67. Dann geht er in Rente. Wird kein Nachfolger für ihn gefunden, muss die Arztpraxis das Angebot notfalls einschränken. Es sei bereits jetzt eine Herausforderung, wenn sich jemand am Morgen krankmelde. „Die Leute kommen schon zu mir, fragen, was machen wir nur ohne dich?“, sagt Zöba, der unter anderem Russisch und Ukrainisch spricht.
Robert, der Obdachlosenlotse, hofft, dass er die Praxis nicht verlassen muss und seine Stelle demnächst über einen anderen Fördertopf weiterbezahlt werden kann. „Ich helfe gerne, der soziale Bereich ist genau das, was ich machen will“, erzählt er.