Picknick im Viktorianischen Zeitalter
Genießen konnte die schönen Momente draußen an der frischen Luft zunächst vor allem die höfische Gesellschaft. Draußen bedeutete, dem steifen Zeremoniell der Paläste, etwa den Tischsitten zu entfliehen. Etwa während einer königlichen Jagd. Die Historikerin Janet Morgan verweist auf einen Holzschnitt aus dem Jahr 1575, der Königin Elisabeth I. zeigt; „mit ihren Hofleuten in einem Gehölz sitzend, ein Tuch vor ihr auf der Erde ausgebreitet, wie sie Taubenpastete mit den Fingern isst“.
Besonders oft findet Queen Victoria (1819–1901) in Betrachtungen zur Kulturgeschichte des Picknicks Erwähnung. Demnach traf sie dafür umfangreiche Vorbereitungen im schottischen Balmoral Castle, während ihr Gatte Albert auf der Jagd umherstreifte. Dass Proviant und Gerätschaften zur rechten Zeit am verabredeten Ort eintrafen, und das selbst im Oktober, dafür sorgte sie Morgan zufolge eisern.
Picknicks kamen in Victorias Regierungszeit groß in Mode. Die High Society traf sich nicht im schottischen Hochland, sondern am Rande der Cricketmatches in Eton, beim Derby von Epsom oder der Regatta von Henley, wo Diener den Champager reichten. Wer heute an einem solchen kostenpflichtigen Picknick-Event teilnehmen will, sollte sich vorher auf den Websites über Wartelisten, erlaubte Speisen und Getränke informieren, empfiehlt Janet Morgan. Spontan geht gar nichts, drei Jahre im Voraus müsste man sich in Ascot anmelden „für jene begehrten Tage, an denen Mitglieder der Königsfamilie aus Windsor Castle mit der Kutsche kommen“.
Eine Flasche Champagner sei pro Person und ab 18 erlaubt; Bier, Cider, Schnäpse, Wein, Pimm oder ähnliche Getränke ausdrücklich verboten. Picknickkörbe und Taschen würden beim Einlass durchsucht. Und vom Thema Kleidung sei man an den Rennbahnen offensichtlich besessen, erklärt Morgan. Für den Derby Day von Epsom gelte für die Herren: „schwarzer oder grauer Gesellschaftsanzug mit Zylinder, Dienstuniform oder vollständige Nationaltracht“ tragen. In der Nähe der Parkplätze soll es entspannter zugehen.
Es muss nicht unbedingt lauschig und sonnig sein. Vor allem dann nicht, wenn es um Krone und Empire geht. Aus heutiger Sicht verstörend reisten viktorianische Picknicker einst bis an die Schlachtfelder auf der Krim, wo die Briten 1854 bis 1856 gemeinsam mit den Franzosen gegen die Russen kämpften. Die Revolution des Transportwesens mit Eisenbahn und schnelleren Dampfschiffen machte es möglich.
Den Proviant lieferte Fortnum & Mason in Picknickkörben. Spezialisiert auf feine Speisen für die Aristokraten hatte das Unternehmen nun „luxuriöse Dosengerichte wie Geflügel und Wild in Aspik, mit Wurstbrät umhüllte hartgekochte Eier (Schottische Eier), Schildkrötensuppe, Wildschweinkopf mit Pistazien und Trüffeln, Gänseleberpastete, eingelegte oder grüne Trüffel, angemachter Schinken und Zunge, russische Ochsen- und Rentierzungen, eingelegte Krabben, Mangos aus Bombay“ im Angebot. Doch nicht mehr nur die Oberschicht reiste neugierig geworden durch die Medienberichte ins Kriegsgebiet: Noch unverheiratete junge, bürgerliche Damen hofften, dort vielleicht ihren Mann fürs Leben zu finden und eine Ehe anzubahnen, wie die Historikerin Diana Noyce recherchierte.
Picknicken – mehr als Essen im Freien
Nicht also nur die Tischsitten lockerten sich mit dem Drang ins Freie. Das Zusammensein auf einer Decke unter Bäumen, mit Blick aufs Meer, die Berge oder unter Umständen ein Schlachtfeld half, sich näherzukommen und unbeobachtet anzubändeln. Anders als zuhause, wo sich Frauen und Männer nach dem Essen in getrennte Räume zurückzogen.
Für die aufkommende Lässigkeit steht ein Bild von Édouard Manet aus dem Jahr 1863: „Le Déjeuner sur l’herbe“ – das „Frühstück im Grünen“ zeigt zwei Paare. Die jungen Männer sind im Gehrock, die Frauen nackt „und das auf einer etwa zwei Meter mal zwei Meter sechzig großen Leinwand“ und „nicht im intimen Kleinformat des erotischen Genres“. So erklärt die Kunsthistorikerin Ursula Renner, warum das Gemälde damals Skandal machte. Für sie versinnbildlicht es auch das „Picknick-Prinzip“: „Fülle und Überfluss genauso wie Improvisation und Unordnung, ein sinnliches laisser-faire“. Die Künstler, vor allem die Impressionisten begannen, dieses Sujet zu lieben.
Einst sehnten sich die Adeligen beim Picknicken in Lustgärten an einen anderen Ort fern der Konventionen, ganz so als wären sie „nur“ einfache Landleute oder Hirten. Spätestens mit der französischen Revolution begann das Volk, sich die königlichen Parks oder den Bois de Bologne im Westen von Paris zu erobern. Volksparks wurden später vielerorts in Europa eingerichtet, mit Schildern wie: „Hier können Familien Kaffee kochen“.
Der industrielle Aufschwung machte die Stadtluft nicht besser. Nicht mehr nur zu Fuß, mit der Eisenbahn brachen die Picknicker sonntags auf. Die besser Betuchten stiegen bald ins Auto. Für sie entwickelte die Firma Louis Vuitton Anfang des 20. Jahrhunderts sehr edle und stabile Koffer, die echte Raumwunder waren. Nichts für Bergwanderungen mit Picknick freilich. Dafür bevorzugten die praktischen Schweizer leichtes und stapelbares Aluminium“geschirr“. In Deutschland erleichterte die Erfindung des Kunststoffes Bakelit den Transport der Utensilien.