Bei Aufklärung und Aufarbeitung der Missbrauchsskandale enttäusche die Kirche auf ganzer Linie – so hört man oft. Dieses Verdammungsurteil ist überzogen. Und potenziell vernichtend. Wäre es denn besser, wenn der Kölner Dom an einen Golfstaaten-Milliardär verkauft werden müsste?
Rund um den 8. Mai konnte man ein Krachen und Knacken vernehmen. In diesen Tagen zerbrach eine sonst weitverbreitete Assoziationskette: die Assoziation „katholische Kirche – sexueller Missbrauch“. Mit dem Tod des alten und der Wahl des neuen Papstes wurden die Katholiken hierzulande vorübergehend mit anderen, meist wohlwollenden Augen angeschaut. Erst diese kurze Pause vom medialen Alltag verdeutlicht, wie gnadenlos die Kirche sonst oft auf schaurige Verbrechen und deren angeblich ausbleibende Aufarbeitung reduziert wird.
Mit journalistischen Kirmesboxern gegen Katholiken
Was kaum wen stört, da in Deutschland, wenn nicht gerade Konklave ist, weithin eine Hau-den-katholischen-Lukas-Stimmung herrscht. Auf Katholiken lässt man schon mal den journalistischen Kirmesboxer los. Ja, in manchem Bistum scheint es fast, als trügen Zeitungsredakteure geradezu lustvoll Dauerfehden mit ihrem jeweiligen Bischof oder Kardinal aus.
Diesen Verzicht auf differenzierte Beurteilung und fairen Umgang hat die Kirche nicht verdient. Weil ihre bundesweit 20 Millionen Mitglieder und 800.000 Mitarbeiter wohl doch ein kleines bisschen mehr sind als „die mit dem Missbrauch“. Und weil einer religiösen Gemeinschaft mit dem Dauer-Stigma der „Missbrauchs-Kirche“, gar der „vertuschenden Missbrauchs-Kirche“ der Ruin droht. Kein Wunder, dass ihr in Umfragen nur noch um die zehn Prozent der Deutschen Vertrauen entgegenbringen.
„Missbrauchs-Kirche“ – das ist mörderisch schlicht
Natürlich, Missbrauch gehört in eine Liga mit, sagen wir, den Hexenverbrennungen. Und natürlich kommt es bei dessen kirchlicher Aufarbeitung immer wieder zu (beispielsweise kommunikativen) Fehlern. Vernichtende Urteilssprüche über die Kirche sind da verständlich – sofern sie von Opfern stammen. So warf die Betroffenen-Gruppe „Eckiger Tisch“ der Kirche rundum „Versagen“ bei „Aufklärung und Aufarbeitung“ der Skandale vor. Wer wollte ihr das verdenken? Nicht verständlich ist aber, wenn die Öffentlichkeit derart undifferenzierte Verdammungsurteile eins zu eins übernimmt.
Denn bei allem Zögern und Zaudern hat die Kirche seit 2010, als die ersten Skandale bekannt wurden, eine beachtliche Strecke zurückgelegt. Wenn überhaupt, dann ist sie keine Missbrauchs-Kirche, sondern eine Missbrauchs-Bewältigungs-Kirche auf dem Weg.
Bei Aufklärung und Prävention setzt sie Maßstäbe
So hat sie in Sachen Aufklärung gewiss nicht völlig versagt. Für ihre Studie von 2018, die erstmals 3677 Opfer aus dem Dunkel- ins Hellfeld holte, wurden beachtliche 40.000 Personalakten ausgewertet. Damit setzte die katholische Kirche Maßstäbe. Das räumt sogar die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs des Bundes ein. Die evangelische Kirche hinkte da leider weit hinterher, als sie Jahre später ihre eigene Missbrauchsgeschichte zu erforschen begann. Zusätzlich wurden in allen 27 katholischen Bistümern weitere Studien externer Fachleute durchgeführt. Wer da von „völligem Vertuschen“ spräche, würde fantasieren.
Von einem totalen Versagen lässt sich auch bei der Prävention nicht sprechen. Mit ihrer permanent fortentwickelten „Rahmenordnung Prävention“ haben die Bischöfe ein flächendeckendes System etabliert – mit obligatorischen Meldewegen bei Verdachtsfällen, verpflichtenden Schulungen zu sexueller Gewalt und übergriffigem Verhalten, mit Risikoanalysen, Schutzkonzepten, Pflicht-Kontrollen für Kirchen-Mitarbeiter, mit Präventionsbeauftragten und niedrigschwelligen Ansprechpartnern.
Weggucken – die Sünde wider den Heiligen Geist
Das Vertuschen und Weggucken bei Missbrauchsverdacht wurde gleichsam zur Sünde wider den Heiligen Geist erklärt. In manchen Gemeinden hapert es zwar bei der Umsetzung, aber selbst die Missbrauchsbeauftragte des Bundes bestätigt, die Kirche erscheine, trotz aller gleichzeitigen Schwierigkeiten, bei Aufarbeitung und Prävention als Vorreiter gegenüber anderen gesellschaftlichen Bereichen. Tatsächlich sind die Missbrauchsfälle in Kita, Schule, Sport und vor allem Familie (wo es – nur nebenbei – keinen Zölibat gibt) ja auch weitaus zahlreicher.
Und vergleichbar hohe Präventionsstandards wird man etwa im Vereinssport kaum finden. Auch dass in allen Bistümern inzwischen Aufarbeitungskommissionen mit Externen und Betroffenen-Beiräte arbeiten, wertet die Missbrauchsbeauftragte zurecht als „Erfolg“.
Im Zweifel gegen den Angeklagten
Vorgeworfen wird der Kirche bisweilen auch, sie speise die Opfer mit Entschädigungs-Brotkrumen ab. Laut „Eckigem Tisch“ erhielten Betroffene im Durchschnitt 19.000 Euro. Offenbar gehe es darum, „den finanziellen Schaden für die Kirche zu begrenzen“. Das klingt nach einem schäbigen Motiv. Aber das wäre arg empathiefrei geurteilt. Tatsächlich liegt die Entschädigungshöhe inzwischen auch über 19.000 Euro im Durchschnitt, weil sie permanent ansteigt. Demnächst wird sie erneut angehoben.
Zudem hat die Kirche mit der „Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen“ (UKA) ein Verfahren zur Entschädigung entwickelt, das jedem ein Schmerzensgeld zahlt, der seinen Missbrauch halbwegs plausibel darlegen kann. Ohne Prüfung vor Gericht. Schnell. Sogar in Zweifelsfällen (was man sich auf der Zunge zergehen lassen sollte: Die Kirche verzichtet immer wieder darauf, den so zentralen Rechtsgrundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ für sich in Anspruch zu nehmen).
Schmerzensgeldhöhe könnte Existenz gefährden
In der Tendenz zahlt die UKA aktuell zwar niedrigere Schmerzensgelder, als Gerichte in vergleichbaren Fällen verhängen. Und in manchen Fällen bestehen Bistümer auch auf der Verjährung einer Klage, um den Kläger dann außergerichtlich zu entschädigen (übrigens nicht im Erzbistum des so gerne gescholtenen Kardinals Woelki). Vermutlich wollen die Bistümer die Kosten dadurch wirklich im Griff behalten. Aber: Das ist auch verständlich – zumindest seit 2023. Damals verurteilte ein Kölner Gericht die Kirche zu einem bis dahin beispiellos hohen Schmerzensgeld von 300.000 Euro. Seitdem schnellt die Zahl der Klagen in die Höhe, in denen sechsstellige Summen verlangt werden. Aktuell werden gar Summen von 850.000 oder einer Million Euro verhandelt.
Für die Kirche könnte dieser raketenartige Anstieg der Schmerzensgeldhöhe existenzgefährdend werden. Was ein paar Daten erahnen lassen: Studien schätzen die Zahl der Missbrauchsopfer in beiden Kirchen auf bis zu 114.000. Wäre die Hälfte davon katholisch und würden dieser Hälfte auch nur 300.000 Euro pro Person zugesprochen, wäre die Kirche um 17 Milliarden Euro ärmer. Um das einzuordnen: Die vermögendsten 70 Prozent der Bistümer besitzen insgesamt Werte in Höhe von 30 Milliarden Euro – über die sie faktisch aber nicht verfügen. Sollen sie etwa den Kölner Dom verkaufen? Und an wen eigentlich? An Golfstaaten-Milliardäre? Nein, es ist kein moralischer Bankrott, den finanziellen Bankrott verhindern zu wollen.
Wem wäre mit erfolgreichem Rufmord gedient?
Diese Feststellung verwischt nicht, dass vieles zu tun (und zu kritisieren) bleibt. Zum Beispiel sollten Betroffene mehr über ihre Täter und deren weiteren Werdegang erfahren dürfen als bislang (sofern das irgendwie rechtlich durchsetzbar ist). Und manche Ansprüche von Missbrauchsopfern sollten auch in Kirchengesetz gegossen werden.
Eins aber muss der Vergangenheit angehören: Das so undifferenzierte wie todbringende Verdammungsurteil, die Katholiken hätten bei der Aufarbeitung rundum versagt. Wem wäre mit einem erfolgreichen Rufmord denn auch gedient? Den Millionen Alten, Kranken, Behinderten oder Wohnungslosen, die von der karitativen Arbeit der Kirche profitieren? Oder den Niedergedrückten, Sterbenden und vom Schicksal Geschlagenen, denen sie – und oft nur noch sie – Kraft und Trost spenden kann? Wer prügeln will, sollte zur Kirmes, nicht zur Kirche gehen.