Mitten im Tennisaufschlag diese Nachricht eines stämmigen Uniformierten: „Heute Nacht gegen zehn.“ Man käme mit dem Schulbus. Man solle sich bereithalten. Okay? Okay.

Das ist einer dieser Erlebnisse, die Donna Leon wahrscheinlich sehr treffend charakterisieren: das souveräne Arrangement von unbeschwertem Lebensgenuss mit schwierigen Lebenslagen. Und in diesem Fall ist es eine Lebensbedrohung. Denn Leon, bevor sie bestsellernde Autorin in Venedig wird, ist unter anderem Englischlehrerin für muslimische Helicopter-Piloten im Iran. Ein kleines Paradies ist es: wenig Arbeit. Ziemlich guter Lohn. Viel Tennis.

Bis Revolutionsführer Ajatollah Khomeini im Sommer 1978 an die Macht kommt und das Leben für Ausländer schwierig, schnell aber lebensbedrohlich wird. Also raus aus dem Land, so schnell wie möglich. Und die letzte Nacht im Teheraner Hotel verbringt sie unter diesen Anweisungen: Vorhänge zu, niemals ans Fenster treten, Licht nur mit der Nachttischlampe auf dem Boden, Schuhe für alle Fälle nicht ausziehen und schlafen nur in der Badewanne. Alles lebensrettende Maßnahmen.

Das ist eine von 33 Episoden ihres manchmal wilden, aber stets ruhelosen Lebens. Dagegen klingt der Titel fast betulich: „Backstage“ heißt das Buch, das mit 250 Seiten etwa den Umfang eines handelsüblichen Brunetti-Krimis hat, aber kein neuer Brunetti-Krimi ist – und sich dennoch höchst unterhaltsam liest. Das liegt an Donna Leons Erzählweise, die einer Schelmin alle Ehre macht. Die am Rande der Welt zu stehen scheint, neugierig, belustigt und gelassen das Treiben ringsum beäugt und sich dann ihren eigenen, oft witzigen Reim darauf macht. Nie aber stilisiert sie sich als Heldin.

Nun ist es keine große philosophische Erkenntnis, aber doch eine lebensgetränkte Erfahrung, wenn sie so lakonisch schreibt: „Menschen sind seltsam: So ist das Leben. Und uns dämmert, dass auch wir vielen, die uns kennenlernen, seltsam erscheinen müssen.“ Dagegen lässt sich nur wenig einwenden.

Donna Leon ist eine, die das Leben, wenn es seine guten, unbeschwerten Seiten zeigt, auch zu genießen weiß. Wie etwa die Oper, besonders Händel. Dann wird sie zur Schwärmerin, und vielleicht ist es auch diese Leidenschaft, die die Amerikanerin nach Venedig spülte und sie dort mehr als ein Vierteljahrhundert sesshaft werden ließ, ehe nicht enden wollende Tourismusströme sie vom Schauplatz ihrer inzwischen 33. Brunetti-Krimis vertrieb. „Jeder Opernbesuch führt uns ins Unbekannte“, schreibt sie.

In „Backstage“ kommt sie oft und gerne auf die Oper zurück, dann auch auf andere Schriftsteller, die sie verehrt, wie Ruth Rendell, Patricia Highsmith, vor allem Charles Dickens, den sie ihre erste literarische Liebesbeziehung nennt. Schon deshalb, weil es in seinen Romanen von bizarren Figuren nur so wimmelt, von sonderbaren Käuzen, denen wir plötzlich als Kartenverkäufer, Busfahrer oder Kellner wiederbegegnen. Unterm Strich: Donna Leon liebt Menschen, weil die heute 82-Jährige, in New Jersey geborene Autorin auch das Leben liebt. Mit einem „Billardspiel“ vergleicht sie es.

Dass „Backstage“ ihr Abschiedsbuch sein könnte, ist so gut wie ausgeschlossen. Schließlich kursieren fleißig Gerüchte, dass sie am 34. Brunetti-Krimi bereits arbeitet, auch wenn der in diesem Jahr nicht mehr zu erwarten ist. Und ein bisschen Brunetti findet sich natürlich auch in ihren Lebensepisoden. Dazu gehören ihre Recherchen zu „Blutige Steine“, die dem Diamantenhändler aus dem Veneto geraume Zeit später zum Verhängnis wurden und er ausgeraubt wurde. Die genaue Recherche ist ihr zwar wichtig, doch im Grunde nur das Schreiben. Ein wenig „distanziert“ schaut sie auf jene Autoren, die für einen Roman ein komplettes Exposé erstellen, eh sie anfangen. Leons Kommentar: „Wir Übrigen machen einfach den Computer an und legen los.“

Leicht und locker liest sich das alles, aber doch nie verantwortungslos. Die erste Geschichte ist eine aus ihrer sehr frühen Berufszeit. Dass diese Episode aber das Buch eröffnet, ist ein Statement. Das ist die Geschichte ihres Schülers Cedric, ein Drittklässler mit einer so besorgten und nervösen Miene, die „nichts auf dem Gesicht eines Zehnjährigen verloren hatte“. Cedric kommt unregelmäßig zur Schule, hat mal gute, mal schlechte Tage. An den schlechten legt er es grundlos auf eine Schlägerei an. Sie besucht seine Mutter, kümmert sich. Über 50 Jahre ist diese Episode schon her, als sich Donna Leon an Cedric erinnert. Nach den Statistiken müsste er bereits gestorben oder in Gefängnis sitzen, schreibt sie. Denn „er war schwarz und lebte in Amerika, also hatte er von Anfang an kaum eine Chance. Man könnte auch sagen, kaum eine Chance, noch bevor er überhaupt geboren war.“

Immer würde es Donna Leon in ihrem Leben dorthin verschlagen, wo es spannend ist, hat ihr Verlag angekündigt. Das ist ein wenig übertrieben. Wahrscheinlicher ist, dass es überall dort, wo Donna Leon ist, spannend wird. Ein sehr legendäres Ereignis aber gibt es doch: Donna Leon ist Lehrerin, diesmal an einer Privatschule in der Schweiz. Ihre Schülerin suchen nun eine sogenannte Anstandsdame, die sie ins heiß begehrte Konzert begleiten würde. Auf dem Weg dorthin wird alles geschluckt und geraucht, was es zu schlucken und zu rauchen gibt. Zum Glück. Denn dieser Rausch sollte bei der Rettung der Kinder noch dienlich werden. Wir schreiben also das Jahr 1971. Der Ort: Montreux. Der Künstler: Franz Zappa. Und spätestens jetzt klingelt es in den meisten Ohren. Denn der Brand im Casino kurz vor dem Zappa-Konzert wurde nur ein wenig später zum musikalischen Großereignis: Er ist das Motiv für den wahrscheinlich berühmtesten Gitarrenriff der Rockgeschichte – für „Smoke on the Water“ von Deep Purple. Dass alle Kinder gerettet wurden, ist vielleicht den Betäubungsmitteln zu verdanken, glaubt Donna Leon: „Sollte ich jemals wieder an einem Ort sein, der in Brand gerät, lasst uns bitte alle unter Drogen stehen.“

Die ansonsten Redselige aber verschweigt bis kurz vor Ende den Song und seine Entstehungsgeschichte. Weil sie ihn lange Zeit gar nicht kannte. Erst unendliche vierzig Jahre später machte sie ein Enkel ihrer Freundin bei einem Familienpicknick darauf aufmerksam. Donna, Donna. Dass sie ein Opernfan ist, darf in diesem Fall wirklich nicht als Ausrede gelten.