Bielefeld. Messer sind lebensgefährlich. In der Nacht auf den 1. Mai 2020 beweist das ein junger Intensivstraftäter an der Bielefelder Stadtbahn-Haltestelle „Schelpmilser Weg“. Er tötet den 17-jährigen Marc mit zwei Stichen in den Bauch. Der Täter – selbst erst 18 Jahre alt – wollte ihm das Handy und den Kopfhörer abnehmen. Doch das war für Marvin W. (Name des Täters geändert) meist nur ein Vorwand. Der Intensivtäter neigte dazu, während der Tat mit Gewalt Macht auszuüben. Auch in diesem Fall: Zwei Mal stach W. in den Bauch seines Gegenübers. Marc erlag seinen Verletzungen nur wenige Stunden nach der Tat im Krankenhaus.

Der Fall löste einen Schock in Bielefeld aus – zumal wenig später bekannt wurde, dass der Täter erst acht Tage zuvor vorzeitig aus der Haft entlassen worden war. Marcs Familie hielt sich damals trotz aller Wut, aller Trauer und aller Verzweiflung komplett aus der öffentlichen Diskussion heraus. Fünf Jahre nach der Tat sprechen erstmals seine Eltern öffentlich über den verstorbenen Sohn, die Folgen der Tat und ihren Kampf zurück in ein Leben, das nun ohne ihre wichtigste Person weitergehen muss.

„Viele verbinden den 1. Mai mit Fröhlichkeit, Tanz und Musik. Für mich ist das seitdem vorbei. Für mich ist der 1. Mai der traurigste Tag im Jahr“, sagt der 55-jährige Vater. Drei Tage nach der Tat wäre sein Sohn 18 Jahre alt geworden. „Ein paar Stunden vor der Tat hatte er mir noch getickert, was er sich zum Geburtstag wünscht. Es war mein letzter Kontakt zu ihm.“

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OstwestFälle

Wöchentlich spannende Einblicke in True Crime Fälle aus OWL.

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Tödlicher Messerangriff – der Fall im Überblick:

  • Marc wird in der Nacht auf den 1. Mai 2020 an einer Bahnhaltestelle von Marvin W. überfallen und anschließend von diesem erstochen.
  • Der Täter, der bei der Polizei kein Unbekannter ist, war erst kurz vor der Tat aus der U-Haft entlassen worden.
  • Immer mehr Straftaten von Marvin W. werden bekannt.
  • Nach der Ermordung von Marc fallen seine Eltern in ein tiefes Loch, aus dem beide nur langsam mit viel Unterstützung heraus kommen.

In der neuesten Folge von Ostwestfälle, dem True-Crime-Podcast der Neuen Westfälischen, sprechen Moderatorin Birgitt Gottwald und NW-Redakteur Jens Reichenbach über den ungewöhnlichen Fall von Jugendkriminalität, über den vermeintlichen Justizskandal und vor allem über die Angehörigen des Opfers, über deren Schicksal in dem Fall bis heute noch niemand berichtet hat.

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Zahlreiche Bielefelder zeigten sich entsetzt und fassungslos über die Folgen der Tat. - © Christian Mathiesen

Zahlreiche Bielefelder zeigten sich entsetzt und fassungslos über die Folgen der Tat.
| © Christian Mathiesen

Der gewaltsame Tod des 17-Jährigen hatte die Familie in eine tiefe Krise gestürzt. Die Mutter, die seit Marcs Kindheit vom Vater getrennt lebt, berichtet von ihrem Schockzustand: „Ich habe gedacht, ich schaffe das nicht. Ich fühlte mich total allein, obwohl mein Partner und meine Freunde alles versucht haben, mir zu helfen. Es dauert mehr als ein halbes Jahr, bis sie merkt, dass sie in ihrer Trauer nicht allein ist.

Auch Marcs Vater erleidet eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Beide Eltern sind lange krankgeschrieben. Alles dreht sich um die Frage „Warum?“. Marcs Vater muss in dieser Zeit fast täglich am Tatort vorbei. Auf Facebook schrieb er sich damals seine Gefühle von der Seele:

„Nun stehe ich hier an Deinem Grab – es sollte anders sein“

„Ich muss nahezu täglich an dem schrecklichen Ort vorbeifahren … Aus dem Radio singt Johannes Oerding ’Alles Okay’. Einen Scheiß ist es! Du wurdest uns weggenommen. In viel zu jungen Jahren. Du warst dabei, Dein Leben in den Griff zu bekommen; hast Dich gemacht. Du warst beliebt bei Deinen Freunden und wurdest von Deiner Freundin geliebt. Du hast sie geliebt. Ich habe Dich nach der Geburt auf meinem Bauch liegen gehabt. Hab Dich nachts gefüttert, gebadet und gewickelt. Dir beim Aufwachsen zugeschaut. Laufen und Fahrradfahren beigebracht. Habe Dir alle nötigen Tugenden beigebracht und Dir Werte gelehrt und vorgelebt. Habe mich gefreut, wenn Du Dich für Technik und Handwerk interessiert hast. Nun stehe ich hier an Deinem Grab – und werde es auch die nächsten dreißig Jahre tun. Es sollte anders sein.“

Schon nach vier Wochen stürzt sich der Bielefelder wieder in die Arbeit. „Ich musste wieder etwas tun. Sonst wäre ich mein Kopfkarussell nicht mehr losgeworden.“ Die Arbeit habe geholfen, wieder Struktur zu finden. Andererseits verlor der Bielefelder aufgrund seiner Belastungsstörung dauerhaft seine Konzentrationsfähigkeit. Bis heute hat das Folgen. Der 55-Jährige ist nicht mehr in der Lage, so schnell zu arbeiten wie früher.

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Nach der Tat folgt die Arbeitslosigkeit für den Bielefelder

„Obwohl mein Arbeitgeber viel Verständnis gezeigt und mir viel Zeit gegeben hat, haben wir uns schließlich getrennt. Es ging einfach nicht mehr.“ Seine Arbeitsabläufe hatten sich so sehr verlangsamt, berichtet der leidenschaftliche Handwerker, dass er die Zeitvorgaben bis heute nicht mehr einhalten kann. „Ich brauche seitdem mehr Zeit, um alle Schritte hintereinander zu bringen.“ Ein gutes halbes Jahr war der Bielefelder arbeitslos. Zum Glück fand er dann aber einen neuen Arbeitgeber, bei dem die Leidenschaft mehr Bedeutung hatte als die Stoppuhr.

Gute langjährige Freunde und seine Lebensgefährtin hätten ihm in dieser Phase sehr geholfen, wieder aus dem Tief zurückzukehren. Auch die Opferschutzorganisation „Weißer Ring“ habe dem Bielefelder wichtige Hinweise für den Umgang mit seiner Situation gegeben. „Ich hatte Symptome wie bei einem Burnout.“ Zwei Jahre lang musste er sich in Therapie begeben. Auch eine Reha war nötig, um wieder in die Spur zu geraten.

Bielefeld: 17-jähriger Bielefelder stirbt nach Messerattacke am Schelpmilser Weg

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Marcs Mutter sagt: „Ohne meine psychosomatische Reha hätte ich diese Zeit nicht überstanden.“ Als die geschafft war, ging ihr Blick endlich wieder in die Zukunft. Trotzdem: Sie entwickelt eine panische Angst vor Mücken. „Mein Therapeut erklärte mir, weil die zustechen wie der Täter.“ Und bis heute traut sich die Bielefelderin nicht in große Menschenmengen. Nur bei ihrer Arminia auf der Stehtribüne schafft sie es.

Dass die Zeit alle Wunden heile, könne keiner der beiden Eltern bestätigen: „Ich frage mich immer wieder, was Marc wohl heute machen würde“, berichtet der Vater. „Und ich frage mich immer wieder, wie es ihm in seinen letzten Minuten ergangen ist. Was hat er den Ersthelfern noch gesagt? Was hat er gedacht? Ich war immer für ihn da. Nur in diesem Moment war ich nicht an seiner Seite“, sagt der Bielefelder mit Tränen in den Augen.

Bielefelder spürt den Impuls, dem Täter die Hände abzuhacken

Auf den Täter angesprochen, berichtet der 55-Jährige ganz offen von seinem Hass in der Anfangszeit: „Anfangs hatte ich den Impuls, ihm beide Hände abzuhacken. Das hört sich barbarisch an, aber ich wollte, dass er niemandem mehr etwas wegnehmen kann.“ Wie damals bekannt wurde, hatte der 18-Jährige in den Monaten vor der Tat bereits mehrere Menschen ausgeraubt und dabei mit so großer Rücksichts- und Empathielosigkeit agiert. Später hieß es, dass Experten die eigentliche Raubtat eher als Vorwand für seine Gewalttaten einschätzten. Innerhalb kürzester Zeit hatte sich seine Akte gefüllt. Insider nannten ihn eine „tickende Zeitbombe“.

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So war Marvin W. im Oktober 2019 an der Vergewaltigung einer 14-Jährigen beteiligt. Er soll das Mädchen für Geld an Bekannte vermittelt haben. Während ein anderer das Mädchen über Stunden missbrauchte hat er die Jugendliche mit einem Messer bedroht und gefügig gemacht. Doch zum Zeitpunkt seiner vorzeitigen Entlassung aus der U-Haft – wenige Tage vor Marcs Tod – war er noch nicht vorbestraft.

Die Richterin reagiert betroffen auf die Tat

Trotz seiner absehbar steilen kriminellen Karriere gab es nach Angaben der Justiz zum damaligen Zeitpunkt keine andere Möglichkeit, als B. zu entlassen. Er wäre ohnehin wenige Tage später mit einem Bewährungsurteil aus der U-Haft gekommen, hieß es damals. Die Richterin stellte angesichts der angeklagten Taten nur eine Bewährungsstrafe für W. In Aussicht. Sie habe damals betroffen auf die Nachricht reagiert, als sie erfuhr, dass B. inzwischen einen Jugendlichen getötet hatte.

Ihn ärgere sehr, sagt der Vater, dass solche Taten oft mit der schweren Kindheit der Täter erklärt werden: „Ich hatte auch keine einfache Kindheit“, sagt der 55-Jährige. „Ich bin in Pflegefamilien aufgewachsen, wir hatten auch einige Probleme, wir hatten auch kein Geld. Das ist alles keine Entschuldigung. Ich bin doch auch kein schlechter Mensch geworden.“ Heute seien seine Gefühle gegenüber dem jungen Mann, der seinen Sohn getötet hat, trotzdem eher stumpf. Seine Therapeutin habe ihm geholfen, sich nicht mehr mit dem Täter zu beschäftigen, sondern sich auf die vielen schönen Momente zusammen mit Marc zu konzentrieren.

Der Getötete war herzlich, warmherzig und charmant

Sein Sohn sei ein herzlicher, höflicher und warmherziger junger Mann gewesen, betont der Bielefelder. Er sei auch sehr charmant gewesen, sagt der Vater mit Blick auf seine Freundinnen nicht ohne Stolz. Der 17-Jährige stand gerade in der Phase beruflicher Orientierung: „Ich war stolz, dass er sich fürs Handwerk und für Technik begeistert hat.“ Wenige Jahre zuvor hatte er seinem Vater noch bei Schweißarbeiten geholfen. Beide Eltern betonen, dass Marc ein hilfsbereiter Mensch war.

Als Kind habe er lange Judo gemacht. Seine Mutter hat bis heute den Judo-Panda bei sich, den sie ihm nach einem Turnier mal geschenkt hat: „Der begleitet uns überall hin – zum Friedhof, zum Stadion.“ Der Panda ist ihre Verbindung zu Marc. „Ich habe die Fragen nach dem Wieso und Warum hinter mir gelassen. Ich werde sie im Himmel beantwortet kriegen“, sagt sie traurig.

„Bis zuletzt hat er Musik geliebt“, betont der Vater. „Damals hörte er Vieles von der Band Neffex. Und er liebte Autos.“ Freunde stellen ihm auch heute noch manchmal kleine Autos neben den Grabstein, berichtet der 55-Jährige. Am Grab liege auch ein steinernes Herz mit einem Brief dabei. „Das alles zeigt mir, dass er beliebt war. Dass wir in unserer Erziehung vieles richtig gemacht haben.“

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Seine Freundin wartete vergeblich auf den Rückruf

Dass Marc keine Geschwister habe, mache den Vater heute traurig. Doch die Beziehung der Eltern war bereits früh in die Brüche gegangen. Beide und ihre jeweiligen Partner leiden bis heute unter den Folgen der Tat. Insbesondere Messerattacken wie die jüngste in Bielefeld vor dem Club „Cutie“ lösen Panikattacken und Back-Flashs bei ihnen aus.

Am späten Abend der Tat kehrte B. gerade von seiner Freundin zurück. Er wollte gegen 23 Uhr nach Hause in seine eigene Jugendwohnung fahren. Seiner Freundin hatte er versprochen, von zu Hause aus noch zurückzurufen. Mit einer Plastiktüte in der Hand und mit Kopfhörern auf dem Kopf stand er an der Stadtbahnhaltestelle. Dass der 1,92 Meter große Jugendliche ausgerechnet dort auf den Täter traf, so berichtet es der Vater, sei völliger Zufall gewesen. „Die haben sich nicht gekannt. Der Typ wollte einfach nur Stress.“ Seine Freundin wartete vergeblich auf Marcs Rückruf.

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Die Tat habe alle, die seinen Sohn kannten, verändert. Die Mutter sagt heute: „Es gehört seit der Tat zu meinem Leben, dass es mir immer wieder schlecht geht.“ Der Vater berichtet, dass er in den vergangenen Jahren sogar enge Freunde verloren habe. Nur die wichtigsten „Stützpfeiler“ unter seinen Freunden und in der Familie seien übrig geblieben. Er habe gemerkt, dass „viele nicht mit unserer Situation umgehen konnten“. Vielleicht hätten ihnen die richtigen Worte gefehlt. „Das könnte ich verstehen. Aber es gibt immer die Möglichkeit, zu zeigen, dass man einem beisteht. Das ist nicht allen gelungen.“


17-jähriger Bielefelder stirbt bei Messerattacke: Entsetzen in Bielefeld. In der Nacht auf den 1. Mai 2020 stirbt ein junger Bielefelder am Schelpmilser Weg an den Folgen seiner Stichverletzungen. - © Christian Matthiesen

17-jähriger Bielefelder stirbt bei Messerattacke: Entsetzen in Bielefeld. In der Nacht auf den 1. Mai 2020 stirbt ein junger Bielefelder am Schelpmilser Weg an den Folgen seiner Stichverletzungen.
| © Christian Matthiesen

„Du bist zwar von uns gegangen, aber bleibst immer in unseren Herzen“

Vier Tage nach der Tat, an dem Tag, an dem Marc erwachsen geworden wäre, schreibt der Vater auf seinem Facebook-Profil an seinen Sohn: „Du wärst heute 18 Jahre alt geworden. Ich hätte mit Dir gerne ein Bier getrunken. Du hättest ab jetzt sogar selbstständig Auto fahren dürfen. Auch hättest Du in der Disco bleiben können, solange Du wolltest. Das alles kannst Du leider nicht mehr, da Du uns so sinnlos aus dem Leben gerissen worden bist. Wir waren bemüht, Dich ordentlich zu erziehen und den Menschen aus Dir zu machen, der Du zum Schluss warst. Mit Deiner Gutmütigkeit, Deiner Wärme, Deiner Genügsamkeit warst Du überall ein gern gesehener Gast. Du hattest gerade angefangen, Dein Leben in die richtigen Bahnen zu lenken. Du hast viele gute Freunde gehabt und auch Deine Liebe gefunden. Du bist zwar von uns gegangen, aber Du bleibst immer in unseren Herzen und Gedanken. Alle haben Dich nur gut in Erinnerung. Unvergessen und geliebt, Dein Papa.“

Das Urteil: 17-jähriger Bielefelder getötet: Achteinhalb Jahre Jugendstrafe