Die meisten Menschen, die so alt sind wie Lorena, stehen auf eigenen Beinen. Sie gehen auf Partys, verlieben sich und bereisen die Welt. Mit 23 Jahren ist das Leben normalerweise spannend.

Bei Lorena hingegen ist nichts normal. Die junge Frau kann nicht auf eigenen Beinen stehen – es sei denn, sie stützt sich auf ihren Stehständer. Sie kann nicht sprechen, nicht essen, nicht laufen.

Lorena, deren richtiger Name nicht in der Zeitung stehen soll, hat Pflegegrad 5, die höchste Stufe. Rund um die Uhr ist sie auf Unterstützung angewiesen. Die junge Frau ist schwerst mehrfach behindert – die Folge eines Behandlungsfehlers im Kleinkindalter.

Gericht stellt 2014 „groben Behandlungsfehler“ fest

Mehr als 20 Jahre sind seither vergangen. Abschließen kann die Familie aus dem Bodenseekreis damit jedoch immer noch nicht. Denn obwohl das Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe den groben Behandlungsfehler der Ärzte des Universitätsklinikums Freiburg bereits im Jahr 2014 festgestellt hat, hat Lorena bis heute keinen Cent Entschädigung erhalten.

Zum Anfang der Geschichte: Lorena wurde im Februar 2002 geboren und entwickelte sich zunächst ganz normal. Dann plötzlich machte sie Rückschritte, hatte Probleme mit der Nahrungsaufnahme, fiel im Sitzen um.

Im Juni 2003 gingen die Eltern mit ihrer damals anderthalbjährigen Tochter zur Abklärung ins Klinikum Konstanz. Bei der Untersuchung fanden die Ärzte einen Tumor in Lorenas Gehirn.

Lorenas Leben hing am seidenen Faden

Unverzüglich wurde das Kleinkind ins Universitätsklinikum Freiburg verlegt und schon am nächsten Tag operiert. Die OP sei bestens verlaufen und der Tumor vollständig entfernt worden, berichtet der Vater.

Nach der OP passierte der schwerwiegende Behandlungsfehler: Lorena wurde zu früh extubiert. Durch das verfrühte Herausziehen des Beatmungsschlauches, obwohl zu diesem Zeitpunkt durchgehend fehlende Atemwegs-Schutzreflexe dokumentiert waren, kam es zu einer massiven Aspiration, also einem Eindringen von Flüssigkeit in die Atemwege, und anschließend zu einer Lungenentzündung. Diese resultierte in einem schweren akuten Atemnotsyndrom (ARDS) mit etwa 100 Lungenrissen.

Das damals 18 Monate alte Kind musste knapp sechs Monate lang invasiv beatmet werden. Während dieser Zeit erlitt sie zahlreiche Episoden von Sauerstoff-Unterversorgung und musste mehrfach reanimiert werden. Das ARDS führte dann aus gutachterlicher Sicht zu multifaktoriellen Schäden und im Nachgang zu den neurologischen Schäden und der Tetraspastik.

Dabei hatte Lorena sogar noch Glück: Laut Helmholtz Zentrum München stirbt mehr als ein Drittel der betroffenen Patienten an einem schweren ARDS.

Eltern mussten hohe Prozesskosten bisher selbst bezahlen

Elf Jahre ist es her, dass das OLG Karlsruhe den groben Behandlungsfehler der Ärzte des Universitätsklinikums Freiburg in einem sogenannten Teilend- und Grundurteil festgestellt hat. Dieses Urteil stellt ein prinzipielles Verschulden der Beklagten fest, jedoch noch nicht den abschließenden Umfang oder die Schadenshöhe. Genau darüber wird seitdem weiter juristisch gestritten. Seit 2014 beauftragt der für den Rechtsstreit zuständige und in Freiburg angesiedelte 13. Zivilsenat immer weitere medizinische Gutachten – laut Lorenas Vater „ohne den Prozess wirklich voranzubringen“.

Hinzu kommt: Die Gerichts-, Gutachter- und Anwaltskosten für den Prozess, die sich inzwischen auf mehr als 100.000 Euro belaufen, mussten die Eltern zu einem erheblichen Teil aus eigener Tasche bezahlen.

Scheuen sich die Richter, ein Urteil zu fällen?

Scheuen sich die Freiburger Richter, ein abschließendes Urteil zu fällen gegen die benachbarte Universitätsklinik? Wird hier durch den Senat die Beauftragung nicht zielführender Gutachten gar als Möglichkeit der Prozessverschleppung genutzt?

„Nein“, sagt der Pressesprecher des OLG Karlsruhe, David Stuhlmann. Es handele sich um einen „überaus umfangreichen, komplexen und schwierigen Fall, der der Aufklärung in neuropädiatrischer, lungenfachärztlicher und neuroradiologischer Hinsicht bedurfte und immer noch bedarf“.

Was der Pressesprecher unerwähnt lässt: Dass die zahlreichen und der Redaktion vorliegenden medizinischen Gutachten bereits allesamt eine eindeutige Antwort geben auf die Frage, ob die neurologischen Schädigungen von Lorena mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf die Folgen des groben Behandlungsfehlers zurückzuführen sind – nämlich: Ja.

Statt Verantwortung zu übernehmen, verliert sich das Verfahren in immer neuen Gutachten.

Sven Wilhelmy, Rechtsanwalt

„Was mich an dem Fall so ärgert, ist, dass der Behandlungsfehler seit 2014 feststeht – doch statt einer Lösung jagt ein Beweisbeschluss den nächsten“, sagt Lorenas Rechtsanwalt Sven Wilhelmy, der den Fall Mitte 2022 übernommen hat. „Statt Verantwortung zu übernehmen, verliert sich das Verfahren in immer neuen Gutachten – mit monatelangen Wartezeiten.“

Ein Vergleich könnte das Verfahren zum Ende bringen. Doch laut Lorenas Eltern weigere sich die Universitätsklinik Freiburg beziehungsweise deren Haftpflichtversicherung hartnäckig, mit Lorena einen solchen zu schließen. Mit der Krankenversicherung von Lorena hat sich die Universitätsklinik Freiburg dagegen schon vor Jahren verglichen.

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„Obwohl unsere Forderung mehr als sechs Monate auf dem Tisch lag, kam von der Gegenseite nichts – kein Gespräch, keine Stellungnahme. Stattdessen verwies man pauschal auf das ausstehende Gutachten – und brach die Gespräche dann ohne Begründung ab“, sagt Lorenas Anwalt.

Kein Vergleich aus Angst vor der Schadenshöhe?

Der Freiburger Rechtsanwalt Matthias Schwarz, der die Gegenseite vertritt, stellt die Sache anders dar. Man sei durchaus bereit zu einem Vergleich. Jedoch seien mehrere Versuche daran gescheitert, dass keine Unterlagen vorgelegt worden seien, die Aufschluss über Lorenas heutigen Gesundheitszustand gegeben hätten. Diese seien aber notwendig, um die Schadenshöhe abzuschätzen.

Dagegen liegen der Redaktion zwei Briefe der Kanzlei von Rechtsanwalt Schwarz an die Klägerin vor, die anderes nahelegen. In den Briefen ist von fehlenden Unterlagen nämlich keine Rede, stattdessen aber von „(…) der doch sehr ambitionierten Schadensberechnung (…)“. Geht es also einzig um die Schadenshöhe, welche die Beklagten vor einem Vergleich zurückschrecken lässt? Immerhin handelt es sich laut Lorenas Eltern voraussichtlich um eine siebenstellige Summe, die sich zusammensetzt aus Schmerzensgeld, Pflegemehraufwand und Erwerbsschaden.

Natürlich zermürbt uns das. Es ist eine irrsinnige Belastung.

Lorenas Vater

Mehr als 20 Jahre liegt der Behandlungsfehler nun zurück. Seitdem wird Lorena zu Hause von ihren Eltern versorgt. Die Mutter hat dafür ihre Arbeitszeit reduziert. Die Pflege und Betreuung von Lorena stellt die Eltern immer wieder vor Herausforderungen, weil sich ihr Leben fast nur noch um ihre Tochter dreht und Zeit für eigene Unternehmungen Mangelware ist. Wie sie das alles aushalten? „Natürlich zermürbt uns das“, sagt Lorenas Vater. „Es ist eine irrsinnige Belastung.“

Seit 2005 kämpfen Lorenas Eltern darum, dass ihre Tochter ein angemessenes Schmerzensgeld bekommt und darüber hinaus für ihre Zukunft abgesichert wird. Ansonsten droht ihr, unverschuldet zum Sozialfall zu werden.

Ein abschließendes Urteil der Freiburger Richter ist nicht in Sicht. „Was fehlt, ist der Wille zur Entscheidung“, sagt Lorenas Rechtsanwalt. „Ein Fall, der seit 2005 verhandelt wird, darf 2025 nicht mehr schweben. Das geht einfach nicht.“

Womöglich gibt es für die Eltern aber auch Licht am Ende des Tunnels: Die Tatsache, dass das OLG Karlsruhe am 28. März 2025 – eine Woche nach Eingang der Interviewanfrage durch die „Schwäbische Zeitung“ – einen Präsidiumsbeschluss traf, der die Zusammensetzung des 13. Zivilsenates in Freiburg verändert, lässt zumindest aufhorchen.

Aufgeben ist für Lorenas Eltern ohnehin keine Option.