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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

die Lage im Gazastreifen ist grauenhaft. Zwischen den Trümmern, die einst Städte waren, liegen Tote und Sterbende, hungern Kinder, gehen unzählige Zivilisten an Verwundungen oder Krankheiten zugrunde. Die israelische Regierung gibt vor, Krieg gegen die Hamas zu führen, nimmt dabei jedoch zigtausend zivile Opfer in Kauf. Allein gestern sollen mehr als 50 Menschen getötet worden sein. Rechtsextremisten in Benjamin Netanjahus Kabinett trachten nach mehr: Sie wollen die Palästinenser nach Ägypten vertreiben, um in Gaza Siedlungen für Siedler zu errichten. Ethnische Säuberung nennt man sowas.

Die fürchterlichen Bilder sorgen für Entsetzen rund um den Globus – und verleiten manche Wirrköpfe ihrerseits zu Gewalttaten: Gestern wurde ein israelisches Paar in Washington erschossen, der Mann besaß auch die deutsche Staatsangehörigkeit. „Free Palestine“ soll der Täter gerufen haben. In amerikanischen und europäischen Städten skandieren aufgebrachte Demonstranten Parolen gegen Israelis oder gleich gegen Juden und setzen den Feldzug im Gazastreifen mit dem Holocaust gleich. Hasspropaganda nennt man sowas.

Tatort des Doppelmords in Washington.Vergrößern des BildesTatort des Doppelmords in Washington. (Quelle: dpa)

Besonnene Stimmen dringen kaum noch durch. Auch deshalb, weil sich die Empörung vieler Politiker in routinierten Appellen erschöpft. Da unterscheidet sich Kanzler Friedrich Merz nicht von den Ministern Lars Klingbeil und Johann Wadephul. Als Journalist stellt man fest, dass sich nach anderthalb Jahren Krieg viele Leser für das Drama im Nahen Osten und dessen Hintergründe nicht mehr interessieren. „Let’s Dance“ und Fußball scheinen wichtiger zu sein. Als ich vergangene Woche in Israel war, durch den zerschossenen Kibbuz Be’eri lief und das Dröhnen der Bomben in Gaza hörte, kam mir der Gedanke, dass es die Betroffenen auf beiden Seiten dieses furchtbaren Konfliktes verdient hätten, rund um die Uhr darüber zu berichten. Nur ist das schwierig, wenn ein Nachrichtenportal auf die Aufmerksamkeit der Leser angewiesen ist. Wenn keiner klickt, lässt sich Journalismus aus Krisengebieten kaum finanzieren.

Israelischer Panzer auf der Autobahn Richtung Gaza.Vergrößern des BildesIsraelischer Panzer auf der Autobahn Richtung Gaza. (Quelle: F. Harms)

Das hält mich nicht davon ab, nach den Berichten der vergangenen Woche auch heute im Tagesanbruch noch mal die Lage im Gazastreifen zu beleuchten. Um Ihre womöglich kurze Aufmerksamkeit nicht zu verlieren, möchte ich es in Form eines Gedankengangs tun. Stellen wir uns heute also eine Frage: Lässt sich die Krise in Gaza lösen oder wenigstens lindern – nicht mit Wunschvorstellungen und Postulaten, sondern mit den Mitteln, die Deutschland und seinen europäischen Partnern tatsächlich zur Verfügung stehen?

Der Blick muss nüchtern sein, die Antworten auch. Mit wem ließe sich in Gaza über einen Waffenstillstand verhandeln? Mit der Hamas eher nicht, sie hat sich spätestens seit dem Massaker vom 7. Oktober 2023 als gewissenlose Mörderbande entpuppt. Die Palästinensische Autonomiebehörde wiederum besteht aus einer Riege korrupter Greise, deren Autorität in der Bevölkerung gegen Null tendiert. Hilfsorganisationen sind auf die Gnade Israels angewiesen und haben keinen politischen Einfluss.

Israels Premier Netanjahu zeigt keine Skrupel.Vergrößern des BildesIsraels Premier Netanjahu zeigt keine Skrupel. (Quelle: Uncredited/Israeli Government Press Office/dpa)

Auf der anderen Seite sieht es leider nicht besser aus: Auf die Kompromissbereitschaft der aktuellen israelischen Regierung braucht man gar nicht erst zu hoffen. Die rechtsradikalen Minister sind Überzeugungstäter, und Premier Netanjahu kämpft nicht nur um seine politische Zukunft, sondern auch um seine private – da geht es ans Eingemachte. Deshalb hat der Krieger-Club im Kabinett nur zwei Manöver im Programm: vorübergehend ausweichen, wenn der Druck zu groß wird (als US-Präsident Donald Trump kurz mal einen Waffenstillstand verlangte zum Beispiel), und ansonsten weiterballern und das internationale Gezeter überhören.

Auch aus der israelischen Gesellschaft kommt der ersehnte Lichtblick nicht. Sie ist in unzählige Fraktionen gespalten, die sich spinnefeind sind. Natürlich gibt es Kriegsgegner und Regierungskritiker, aber mindestens ebenso groß ist die Zahl der Scharfmacher. Und dann sind da noch die Nationalisten, Ultraorthodoxen und sonstigen Ideologen. Der Wunsch nach der Befreiung aller Geiseln ist das einzige Band, das die Israelis in diesem Konflikt noch zusammenhält.

Der Schlüssel, mit dem die Tür zum Frieden aufgeschlossen wird, müsste Israelis und Palästinensern also von außen gereicht werden. Leider ist der gegenwärtige US-Präsident ein Totalausfall, und die Vereinten Nationen haben gegenüber den Israelis ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt. Deutschland hat sich selbst die Hände gebunden, doch das müsste nicht so sein. Die deutsche Staatsraison verlangt aus historischen Gründen zu Recht, an der Seite Israels zu stehen. Aus denselben Gründen verlangt sie aber auch, nicht an der Seite von Kriegsverbrechern zu stehen. Das ist das entscheidende Argument. Israels Existenz wird aus Gaza gegenwärtig nicht mehr bedroht. Deshalb ist es an der Zeit, mit den Tätern von heute zu brechen – und die sitzen in Jerusalem.

Auch deutsche und europäische Interessen sind vom Horror in Gaza betroffen. Es leben Millionen arabische und andere muslimische Einwanderer in Europa, und vielen von ihnen gilt Gaza als Symbol der westlichen Heuchelei: lamentieren, aber stillhalten, wenn die Hautfarbe der Opfer nicht stimmt. Schon die Gräuel in Bosnien in den Neunzigerjahren und die begleitende europäische Untätigkeit haben eine ganze Generation europäischer Muslime radikalisiert und den Terror stark gemacht. Das Grauen in Gaza tut es heute wieder. Diese Erkenntnis muss nicht nur bei Polizisten, Verfassungsschützern und Politikern die Alarmglocken schrillen lassen. Sondern eigentlich bei jedem Bürger. Wir sind keine Zaungäste des Dramas in Gaza, sondern mittelbar Betroffene – hier, zuhause, bei uns.

Was also tun? Diplomatischer Druck aus Europa hat sich als nutzlos erwiesen, Resolutionen der UN-Vollversammlung auch: Die hagelt es seit Israels Staatsgründung zuhauf, mittlerweile kann man damit die Wände des Außenministeriums am Werderschen Markt tapezieren. In Israel schert sich niemand darum.

Was bleibt dann? Es gibt zwei Ansätze, den Preis des Krieges für das israelische Kriegskabinett massiv zu erhöhen und zugleich den vielen Nebenbedingungen Rechnung zu tragen.

Option eins: Umfassende Sanktionen gegen Israel, erst angedroht, dann umgesetzt. Der Krieg belastet die israelische Wirtschaft enorm, Sanktionen tun deshalb weh. Es drohen Arbeitslosigkeit und schmerzhafte Einschnitte im Portemonnaie des Wahlvolkes. Das mag kein Politiker, auch Netanjahu nicht. Einige EU-Länder mit Frankreich an der Spitze versuchen dieses Instrument gegenwärtig zu schärfen, allerdings müssten dafür auch andere mitmachen: die Araber am Golf zum Beispiel, die im Moment so viel in gutes Wetter mit Mister Trump investieren. Der US-Präsident selbst zeigt kein Interesse an Sanktionen, dass die USA mitziehen, ist also nicht zu erwarten. Ob europäische Strafmaßnahmen für sich genommen genug Schaden anrichten oder leicht zu umgehen und bloß bürokratisch lästig sind, lohnt sich zu prüfen.

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