Stand: 23.05.2025 00:01 Uhr
Vor 76 Jahren trat das Grundgesetz in Kraft, ein nüchterner Text mit großer Wirkung. Doch welche Rolle spielen hier Gefühle? Die Historikerin Ute Frevert erklärt im Interview, warum Gefühle eine zentrale Rolle in der politischen Geschichte spielen und warum wir sie ernster nehmen sollten.
Vor 76 Jahren, am 23. Mai 1949, wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet. Die Deutschen erhielten damit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, nach Holocaust und Massenmord, eine neu verfasste politische Ordnung. Die Historikerin Ute Frevert beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit politischen Konstellationen in der Geschichte, auch mit der Verfassung, dem Grundgesetz und den damit verbundenen Gefühlen. Sie hat dazu viele Bücher geschrieben: „Die Politik der Demütigungen“, „Mächtige Gefühle“, „Gefühle in der Geschichte“ oder jüngst: „Verfassungsgefühle“.
Wie tatsächlich Politik mit Gefühlen verkoppelt ist, welchen Einfluss sie haben, wie sich Gefühle in der Geschichte erforschen lassen, darüber spricht die ehemalige Direktorin des Forschungsbereichs Geschichte der Gefühle am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Ute Frevert, mit Claudia Christophersen in NDR Kultur à la carte.
Gefühle sind das Interieur unserer Innenwelt. Starke Gefühle, sagen Sie, wirken in die Außenwelt und können Geschichte prägen und lenken. Verstehen wir die Welt besser, wenn wir auf Gefühle achten?
Ute Frevert: Sicherlich, denn Gefühle sind das, was uns antreibt, was uns in Bewegung hält, in Bewegung setzt, vielleicht auch an der Bewegung hindert. Insofern ist es immer wichtig, hinter bestimmten Bewegungen, Entscheidungen, Ereignissen, auch danach zu schauen, in welcher Weise dort auch Gefühle mitgespielt haben. Gefühle, die man hat, aber auch Gefühle, die vielleicht von bestimmten Interessengruppen angeheizt oder besänftigt werden. Insofern sind Gefühle immer mit dabei. Selbst diejenigen, die das nach Möglichkeit bestreiten würden und sagen: „Nein, wir handeln absolut sachlich und ohne Rücksicht auf das, wie wir uns fühlen.“ Diese Menschen sitzen einem Mythos oder einer Illusion auf.
Gesetzestexte sind in der Regel wenig poetisch. Allein das Wort „Grundgesetz“ hatte es auch damals nicht leicht. Das Wort sei klanglos, fand der Politikwissenschaftler Dolf Sternberger. Amerikaner feierten ihre Verfassung, Franzosen waren stolz auf Menschen- und Bürgerrechte – ist das eine Mentalitätssache? Oder war man und ist vielleicht bis heute auch in Deutschland eher zurückhaltend mit zu viel Gefühl, Pathos und Stolz?
Frevert: Das stimmt sicherlich. Es hat unmittelbar etwas damit zu tun, dass in der NS-Zeit diese Gefühle wie Stolz, Nationalgefühl – wir sind doch wer und wir sind sogar mehr und wichtiger und toller als alle anderen – dass die in einer Weise inflationär gebraucht und auch missbraucht worden sind. Dass man nach 1945 zumindest im Westen davon erst einmal Abstand genommen hat. Aber wenn man in die Geschichte zurückgeht, dann sind auch die Deutschen nicht so nüchtern, sachlich und unemotional gerade gegenüber ihren Staatsgrundgesetzen, in ihren Verfassungen gewesen, wie man das nach 1945 erst einmal beobachten konnte.
Es gab gerade im frühen 19. Jahrhundert, als sich viel bewegte, unglaublich beeindruckende Prozessionen, Feiern, Feste, die rund um die Verfassung – oder schon eine vorhandene Verfassung, oder eine Verfassung, die man sich wünschte – von überwiegend liberalen und demokratisch gesinnten Männern und Frauen organisiert worden sind. Da fehlt es überhaupt nicht an Pathos, Stolz oder Forderungen, welche Art von Verfassung man eigentlich haben möchte. Verfassungen sind immer Dokumente der Machtteilung oder der Machtteilhabe, und zwar in dem Maße, in dem sich die Bürger seit der Zeit der Französischen Revolution in dieses politische Geschäft einmischen und auf Teilhabe dringen. Diese Teilhabe sollte auch in einer Verfassung begründet, legitimiert und geschützt werden. Hier wird eben auch der Kampf um die Verfassung ganz wichtig. Kampf geht nun mal nicht ohne Gefühle.
Gefühle bewegen uns und sind auch veränderbar, das schreiben Sie. Gefühle verändern sich. Ich habe gedacht, inwieweit sind die Gefühle dann eine verlässliche Konstante in der Geschichte?
Frevert: Sie sind niemals eine Konstante und schon gar nicht verlässlich. Aber ob wir wollen oder nicht, sie mischen immer mit. Als Menschen haben wir Gefühle und mittlerweile versucht man sogar Robotern und Maschinen Gefühle zu geben, damit sie möglichst menschenähnlich werden. Auch Primaten haben Gefühle. Darüber haben die Primatologen sehr genau Auskunft gegeben. Das heißt, diese Gefühle begleiten uns, sie sind Teil von unserem Mensch-Sein. Es ist auch sehr wichtig, dass es sie gibt, denn ansonsten wären wir ziemlich langweilige, vorhersagbare, dumpfe Gestalten, die diese Welt bevölkern. Die Gefühle machen uns lebendig. Sie bringen das Beste und Schlechteste aus uns heraus. Jeder Mensch lernt diese Gefühle nicht einfach ungefiltert auf die Mitmenschen loszulassen.
Das Lernen von Gefühlen und von Gefühlsmanagement ist ein ganz wichtiger Teil des Erwachsenwerdens und auch des Erwachsenseins. Manche Leute lernen nie, ihre Wut und ihren Ärger zu zügeln, das macht sie nicht unbedingt sympathischer. Andere Menschen lernen Gefühle so zum Ausdruck zu bringen und einzusetzen, dass sie das Gegenüber nicht vor den Kopf stoßen, sondern eher Möglichkeiten geben, mit uns weiter zu kommunizieren. Es ist wirklich eine Gefühlsarbeit, die jeder Mensch leistet, egal wo, ob in der Familie, in der Schule oder im Parlament. Zu reflektieren und zu wissen, dass Gefühle ganz großen Schaden anrichten können, aber auch ganz große Wunder vollbringen können, das wäre ein wichtiger Lernfortschritt. Es wäre toll, wenn wir das alle ein bisschen stärker bedenken würden.
Das Gespräch führte Claudia Christophersen. Einen Ausschnitt davon lesen Sie hier, das ganze Gespräch können Sie oben auf dieser Seite und in der ARD Audiothek hören.
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Dieses Thema im Programm:
NDR Kultur |
NDR Kultur à la carte |
23.05.2025 | 13:00 Uhr