Herr Reisner, die Verhandlungen um ein Kriegsende in der Ukraine kommen kaum voran. Inwiefern spielt das Kremlchef Wladimir Putin in die Karten?
Putin sieht sich in der Siegerposition. Er ist überzeugt davon, dass er in diesem Abnutzungskrieg, den er gegen die Ukraine führt, schlussendlich die Oberhand gewinnen wird.
Ich habe schon vor Monaten davor gewarnt, dass es in einer solchen Lage nur zu Scheinverhandlungen kommen kann, die Russland nutzt, um Zeit zu gewinnen. Genau das erleben wir jetzt.
Was macht der Kreml mit der gewonnenen Zeit?
Ein Blick auf die Front zeigt, dass die Russen langsam vormarschieren. Das Ausmaß des Vorstoßes ist zwar sehr begrenzt, aber Dutzende Quadratkilometer jeden Tag sind es trotzdem.
Die Angriffe konzentrieren sich vor allem auf den mittleren Frontabschnitt zwischen Kupjansk im Charkiwer Gebiet und Pokrowsk in Donezk. Besonders schwere Kämpfe sehen wir hier rund um die Stadt Torezk, die im Zentrum eines Kessels liegt, der sich immer weiter zusammenzieht – unter anderem durch russische Vorstöße im nördlich gelegenen Tschassiw Jar sowie westlich in der Nähe von Pokrowsk.
Zur Person
Markus Reisner vom Österreichischen Bundesheer leitet das Institut für Offiziersausbildung der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt. Seit Beginn der russischen Vollinvasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 erklärt er das Kampfgeschehen und zählt zu den prominentesten Analysten im deutschsprachigen Raum.
© KRISTIAN BISSUTI
Welches Ziel steckt dahinter?
Die Absicht der Russen ist ein sogenannter operativer Durchbruch, also ein Durchbruch aller ukrainischen Verteidigungsstellungen.
An mehreren Abschnitten ist ihnen das schon fast gelungen. Dort mussten die Ukrainer hinter der letzten von drei regulären Verteidigungslinien eine improvisierte vierte Linie aus Stacheldraht und einfachen Stellungen errichten.
Wie groß ist die Gefahr, dass Putins Armee der große Durchbruch gelingt?
Es ist wie bei einer mathematischen Gleichung: Das Ergebnis hängt von mehreren Variablen ab.
Eine davon ist die Unterstützung des Westens für die Ukraine. Sollte die sich verschlechtern, etwa weil US-Präsident Donald Trump die Geduld verliert und die Militärhilfe einstellt, dann wäre das sehr ungünstig für Kiew.
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Was noch?
Eine weitere Variable ist natürlich die Verfügbarkeit von Kräften auf ukrainischer Seite. Das ist ein großes Thema, weil dem angegriffenen Land die Soldaten ausgehen. Und schließlich ist da die Frage nach den aufgefrischten Kapazitäten der russischen Armee.
Wie sieht es da aus?
Wir sehen gerade den Höhepunkt der russischen Frühjahrsoffensive, die ziemlich eindeutig bereits die Vorbereitung für eine Sommeroffensive darstellt.
Ukrainische Drohnenpiloten im Gebiet Donezk. Nur mit großer Mühe stemmen sie sich dort mancherorts gegen einen russischen Frontdurchbruch.
© REUTERS/UKRAINIAN ARMED FORCES
Davon, wie gut es Russland gelingt, neue Kräfte verfügbar zu machen, hängt ab, ob die Kräfte der Ukrainer reichen werden. Oder ob sie sich zurückdrängen lassen, schlimmstenfalls sogar einen gegnerischen Frontdurchbruch nicht aufhalten können.
Was müsste passieren, damit Kiew das Blatt auf dem Schlachtfeld noch einmal wenden kann?
Es müsste der Ukraine laufend gelingen, neue Soldaten zu mobilisieren, um ihre ausgedünnten Verbände aufzufrischen und um in abgekämpften Verbänden rotieren zu können. Die Versorgung mit Ausrüstung, Munition und Material müsste sichergestellt sein.
Vor allem aber müsste die ukrainische Armee in der Lage sein, über mehrere Wochen hinweg mit weitreichenden Waffen massiven Druck auf russische Verbände, Logistik und Gefechtsstände auszuüben.
Immer wieder wird in Deutschland eine mögliche Lieferung von weitreichenden Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine diskutiert. Was könnten die bringen?
Ein einzelnes Waffensystem alleine ist nie kriegsentscheidend, sondern muss immer im Verbund gesehen werden. Außerdem funktionieren solche Waffensysteme nur, wenn sie saturierend eingesetzt werden.
Wladimir Putin am 9. Mai bei der großen Militärparade in Moskau. Momentan sieht der Kremlchef sich auf der Siegerstraße.
© IMAGO/SNA/IMAGO/Sergey Bobylev
Was heißt das?
Dass die Taurus-Marschflugkörper in großem Umfang eingesetzt werden müssten, damit sie ihre Wirkung entfalten können. Es bräuchte über mehrere Wochen hinweg täglich circa ein Dutzend Angriffe, um den Gegner in die Knie zu zwingen.
Wenn einmal im Monat drei oder vier solcher Geschosse eingesetzt werden, dann kann das den ein oder anderen spektakulären Erfolg bringen, der auch schmerzhaft für die Russen ist. Aber der saturierende Effekt bleibt eben aus.
Russland möchte unverändert eine Kapitulation der Ukraine.
Markus Reisner, Militärexperte
Ohne mehr militärischen Druck wird Russland wiederum nicht von seinen maximalen Kriegszielen abrücken.
Ja, und genau das ist aus meiner Sicht das Schreckliche an der aktuellen Situation. Wir sind im Grunde wieder da, wo wir im Frühjahr 2022 waren, als schon einmal Verhandlungen in Istanbul stattfanden.
Die Ukrainer wollen einen Waffenstillstand, zumindest für 30 Tage. Und die Russen sagen: „Nein, wir wollen stattdessen über die ,Grundursachen‘ des Konflikts reden.“ Übersetzt heißt das: weitreichende Gebietsabtretungen, keine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine, keine starken ukrainischen Streitkräfte, keine verlässlichen Sicherheitsgarantien und so weiter.
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Also haben die Ukrainer gar keine andere Wahl als weiterzukämpfen?
Völlig richtig. Das ist ja das, was sie selbst immer wieder betonen: „Wenn die Russen den Krieg beenden wollen würden, könnten sie von heute auf morgen ihre Angriffe einstellen. Wenn wir das tun, dann hören wir als Staat auf zu existieren.“ Da ist sehr viel Wahres dran. Russland möchte unverändert eine Kapitulation der Ukraine.
Die nächsten Verhandlungen sollen laut Trump im Vatikan stattfinden. Falls es wirklich dazu kommt: Könnte das etwas bringen?
Die Kunst von Verhandlern besteht natürlich darin, einen Kompromiss zu erzielen. Doch wenn die Ukraine immer weniger Unterstützung erhält, wenn die USA sich zunehmend abwenden, wenn Europa nicht in der Lage ist, das zu kompensieren: Warum sollte Moskau dann in irgendeiner Art und Weise auf das eingehen, was Kiew fordert?