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Noch mit 85 Jahren ist Annemarie Zellmer Buchhändlerin aus Leidenschaft. Sie betreibt ihr »Altershobby« nun seit 21 Jahren im Antiquariat in Wieseck.
Wieseck – »Goethe war hier – nie«, verkündet ein kleines Blechschild am Hoftor. Nicht leibhaftig, zwischen zwei Buchdeckeln aber sehr wohl – im lauschigen Antiquariat von Annemarie Zellmer in der Rabenauer Straße 4 in Wieseck. Wer hierher kommt, betritt eine andere Welt – einen Raum, der Lesevergnügen atmet. Bücher sind eigentlich überall, in den raumhohen Regalen, auf Stühlen und auf einem Lesepult. Voll und organisiert zugleich ist es in dem Zimmer mit dem gemütlichen Polstersesselchen und der kleinen Tischgruppe – und voller Versprechungen. »Und das ist nur ein Bruchteil meiner Bücher«, sagt Annemarie Zellmer. Deutsche Klassiker, Philosophie, Theologie, Geschichte, Politik, Lyrik, Briefwechsel, Biografien, naturwissenschaftliche Werke, Bildbände, Romane, Krimis, Kinder- und Jugendbücher, Lexika und vieles mehr umfasst ihr Sortiment – »keine Ahnung, wie viele Bücher genau, bestimmt zigtausende«, sagt sie und lacht schallend. Die Garage und ein Raum im Obergeschoss zeugen davon.
Noch mit 85 sucht Buchhändlerin Annemarie Zellmer für Kunden im Internet nach Büchern
Zudem hat sie humorige und historische Postkarten im Angebot. Ein Schwerpunkt liegt auf dem Bereich der heimatkundlichen Bücher über Gießen und die Region. Hier übernimmt sie gelegentlich auch noch Sammlungen oder Einzelstücke, aber keine Bücherkisten mit anderen Werken mehr, die ihr angeboten werden – »aus Altersgründen«. Das erklärt sie auch zwischendurch einer Anruferin und verweist sie an ein Internetportal oder Bücherschränke, bei denen man privat Titel abgeben könne. Zellmer sucht für Sammler, oft auf Auftrag, direkt im Internet nach alten Schätzchen – und hat selbst 4000 Titel dort zum Verkauf gelistet. Zwischen zwei Sätzen schnell eine Bestellung zu beantworten, ist für sie ein Kinderspiel. »Wenn ich den Hinweis des Käufers erhalte, dass er überwiesen hat, geht das Buch zur Post«, sagt sie. Das zeugt von Vertrauen – »ohne Vertrauen geht es nicht in der Welt, finde ich«. Reingefallen ist sie damit noch nie.
In ihrem Element: Annemarie Zellmer umgeben von Büchern in ihrem Antiquariat am alten Lindenplatz in Wieseck. © Oliver Schepp
Zellmers Bücherliebe ist schon ein Leben alt. Ihre Familie betrieb in Friedberg die Buchhandlung Bindernagel, und zu Hause wurde immer viel vorgelesen. »Nach der Schule habe ich dann oft hinter den Regalen in der Buchhandlung auf der Leiter gesessen und Heftchen geschmökert – Nick Knatterton oder Micky Maus, das gab es daheim nicht«, schmunzelt sie.
Sie selbst hat den Beruf der Buchhändlerin nach ihrem Abitur im Jahr 1960 in Marburg gelernt und nach ihrer Familienphase mit drei Kindern in der Filiale der elterlichen Buchhandlung, die mittlerweile ihr Bruder übernommen hatte, bis zu ihrem Renteneintritt mit 64 ausgeübt. Dazu ist sie von Gießen gependelt, wo sie 1972 mit ihrer Familie hingezogen war, weil ihr Mann Leiter des Rechtsamtes in der Kreisverwaltung wurde. Damals konnten sie das Haus in Wieseck mieten und später erwerben. Im früheren Gästezimmer entstand 2004 Raum für das »Altershobby« der Ruheständlerin: Das Antiquariat am alten Lindenplatz. Sie habe nämlich gemerkt: »Es geht einfach nicht ohne Bücher.« Und ihr Mann habe damals gesagt: »Jetzt hast du endlich deinen eigenen Laden.«
Mit Buch und Wein im Garten verbringt Annemarie Zellmer ihre Zeit am liebsten
Natürlich hat sie nicht alle Bücher gelesen, wie Schüler einer Klasse, die sie neulich im Antiquariat besuchte, fragten. Aber eine Vielleserin ist sie schon, auch wenn sie heute nicht mehr nach dicken Schmökern oder Romanen greift, sondern Lyrik und Kurzgeschichten bevorzugt – »oder Texte, die Menschen geschrieben haben, die ich kenne«. Das Buch »Der ewige Brunnen« mit einer Sammlung deutscher Gedichte aus über acht Jahrhunderten fasziniert sie schon lange – zuletzt habe sie ein Ergänzungsbändchen dazu gelesen.
Ein Brief aus der Vergangenheit
Eine besondere Leidenschaft hat Regina Beil. Sie sammelt Briefmarken und hat neulich erfahren, dass ihr Hobby auch große Überraschungen mit sich bringen kann.
Immer schon viel gegeben habe ihr der Kontakt mit den Kunden – da sind auch tiefe Freundschaften entstanden. Und: »Mir ist jeder sympathisch, der gerne liest.« An die Eröffnung erinnert sich Zellmer noch gut, als ganz viele Stammkunden aus ihrer Butzbacher Zeit kamen. Heute habe sich durch Internet, E-Books und Hörbücher viel geändert am Leseverhalten. Aber auch das gebe es noch, dass Kunden ganze Bücherstapel bei ihr abschleppen. Und Philosophie scheine bei jungen Leuten wieder Interesse zu finden. Was die Antiquarin aber besorgniserregend findet: »Bei vielen Kindern gibt es zu Hause überhaupt keine Bücher mehr.« Dabei könne das Lesen dem Leben so viel geben. Daher habe sie sich neulich sehr gefreut, als ein Vater mit seiner Tochter einen Armvoll Bücher bei ihr kaufte – »damit die bis Ferienende reichen«.
Das Antiquariat ist mittwochs und donnerstags von 15 bis 18 Uhr geöffnet – und nach telefonischer Vereinbarung jederzeit. Jeden Tag ist Annemarie Zellmer zur Beantwortung von Anfragen und Recherche im Internet unterwegs für ihre Kundinnen und Kunden. Fernseher oder Smartphone besitzt sie nicht. »Brauch ich nicht«, sagt sie fröhlich. Lieber sitzt sie im Garten, mit einem Buch in der Hand, genießt ein Glas Wein und schaut ins Grüne. »Das tut mir so gut«.