Die Abwendung der Trump-Regierung von Europa und die Bedrohung aus Russland bringen die EU und Großbritannien wieder näher zusammen. Mehrere Abkommen sollen die Beziehung neu aufstellen. WELT beantwortet die wichtigsten Fragen.
Monatelang wurde verhandelt – jetzt stehen neue Abkommen der EU mit Großbritannien: Die 27-EU-Staaten und das Vereinigte Königreich wollen enger zusammenarbeiten bei Themen wie Verteidigung und Sicherheit, Lebensmittelstandards, Fischerei und Energie.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach von einem „historischen Moment“. Sie ergänzte: „Wir beginnen ein neues Kapitel in unserer einzigartigen Beziehung.“ Die Einigung fünf Jahre nach dem Brexit 2020 sei ein wichtiges Zeichen in unsicheren Zeiten. Die Botschaft sei, dass Europa zusammenstehe angesichts der „größten Bedrohung“, die es seit Generationen gegeben habe, sagte von der Leyen vor dem Hintergrund von Russlands Krieg gegen die Ukraine. EU-Ratspräsident António Costa betonte: „Wir sind Nachbarn, Verbündete, Partner, und wir sind Freunde.“
Der sogenannte EU-UK-Gipfel der Spitzenpolitiker solle künftig jährlich stattfinden, sagte Costa. Der britische Premierminister Keir Starmer betonte, die Einigung sei für beide Seiten ein Gewinn. „Damit beginnt eine neue Ära in unserer Beziehung“, sagte Starmer. Die Briten rechnen mit, dass bis 2040 rund neun Milliarden Pfund in die eigene Wirtschaft eingebracht werden.
Von der Leyen, Costa und EU-Chefdiplomatin Kaja Kallas und der mit Großbritannien befasste EU-Kommissar Maros Sefcovic waren am Montag im prunkvollen Lancaster House in London empfangen worden.
Wie kam es zu der Annäherung?
Im Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und Großbritannien nach dem Brexit spielte das Thema Verteidigung keine Rolle. Damals war der Krieg in der Ukraine noch weit weg, die Briten wollten das Thema im Rahmen der Nato und bilateraler Beziehungen regeln. Doch seit Russlands groß angelegtem Einmarsch in sein Nachbarland und der Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus hat sich das geändert. Beide Seiten scheinen mehr denn je aufeinander angewiesen. „Großbritannien und die EU müssen in diesen geopolitisch schwierigen Zeiten zusammenhalten“, sagte Kallas vor dem Treffen dem „Tagesspiegel“.
Über die Details der Abkommen wurde lange gestritten. Der Durchbruch erfolgte nach Diplomatenangaben kurz vor dem Gipfel am Morgen nach nächtlichen Verhandlungen. Streitpunkte waren vor allem Fischereirechte sowie Jugendmobilität zwischen der EU und Großbritannien, die es jungen Menschen erleichtern soll, für eine begrenzte Zeit im Ausland zur Schule zu gehen, zu studieren oder zu arbeiten.
Fischerei war schon während des Brexit-Referendums ein großes Thema. Die derzeit gültige Verteilung läuft im kommenden Jahr aus, dann müssten die Fangquoten Jahr für Jahr ausgehandelt werden. Vor allem Frankreich pochte darauf, dass die bisherige Regelung weiterhin gilt.
Was ist bisher über den Inhalt der Abkommen bekannt?
Die Einigung sieht drei Themenkomplexe vor: einen Sicherheits- und Verteidigungspakt, eine Solidaritätserklärung und eine Vereinbarung zu Themen wie Handel, Fischerei und Jugendmobilität. Die Vereinbarung ist dabei oft nur Grundlage für weitere Verhandlungen.
- Verteidigung: Im Zentrum der Neuausrichtung der Beziehung steht ein Verteidigungs- und Sicherheitspakt, der Großbritannien die Teilnahme an gemeinsamen Beschaffungen ermöglicht. Dies ebnet den Weg für britische Unternehmen wie BAE Systems, Rolls Royce und Babcock, an einem 150 Milliarden Euro schweren EU-Programm zur Wiederbewaffnung Europas teilzunehmen.
- Ukraine: Auch bei der Unterstützung für die Ukraine wollen beide Seiten noch enger als bisher kooperieren.
- Fischerei: In der Fischerei werden britische und EU-Schiffe für zwölf weitere Jahre Zugang zu den Gewässern des jeweils anderen haben.
- Handel: Im Gegenzug für das Entgegenkommen bei Fischereirechten will die EU die Bürokratie für Lebensmittelimporte aus Großbritannien auf unbestimmte Zeit lockern.
- Mobilität: Ein Jugendmobilitätsprogramm für Unter-30-Jährige soll das Reisen und Arbeiten zwischen Großbritannien und der EU erleichtern. Die Regierung von Starmer betont, dass dies keine Rückkehr zur Freizügigkeit bedeutet. Stattdessen wird eine kontrollierte Anzahl von Personen mit begrenzter Teilnehmerzahl und Aufenthaltsdauer angestrebt. Laut einem Entwurfsdokument, das Reuters einsehen konnte, werden beide Seiten auf ein solches Abkommen hinarbeiten. Die genaue Teilnehmerzahl wird noch diskutiert.
- Energie: Beide Seiten prüfen die britische Teilnahme am internen Strommarkt der EU, den Großbritannien nach dem Brexit verlassen hatte. Die britische Energiebranche drängt jedoch auf effizientere Stromhandelsvereinbarungen mit der EU. Im Jahr 2024 importierte Großbritannien rund 14 Prozent seines Stroms über Verbindungen mit Belgien, Dänemark, Frankreich und Norwegen.
- Emissionshandel: Großbritannien und die EU arbeiten an einer Verbindung ihrer Emissionshandelssysteme. Viele Unternehmen auf beiden Seiten fordern eine Verknüpfung der Kohlenstoffmärkte. Branchenanalysten weisen darauf hin, dass dies wahrscheinlich die britischen Kohlenstoffpreise auf das EU-Niveau anheben würde. Energieunternehmen argumentieren jedoch, dass dies Kosten für Verbraucher senken und die Marktliquidität verbessern könnte. Zudem würde es Großbritannien helfen, Gebühren unter dem europäischen CO₂-Grenzausgleichsmechanismus zu vermeiden, der ab 2026 auf bestimmte Importe erhoben wird.
Dürfen EU-Bürger auf Visa-Erleichterungen hoffen?
Hier gibt es noch keinen weißen Rauch. Die Bundesregierung pocht schon lange auf ein Programm für junge Menschen zwischen 18 und 30 Jahren, um in Großbritannien zumindest für begrenzte Zeit studieren und arbeiten zu können.
Den Vorstoß der EU-Kommission für ein Youth Mobility Scheme lehnte die inzwischen regierende Labour-Partei noch im April vergangenen Jahres brüsk ab. Man werde nicht zur Personenfreizügigkeit zurückkehren, durch die sich EU-Bürger ohne weiteres in Großbritannien niederlassen konnten, hieß es damals.
Auch jetzt scheint das Thema weiter schwierig zu sein. Immerhin einigten sich beide Seiten darauf, weiter darüber zu sprechen. Auch eine Rückkehr der Briten in das Erasmus-Austauschprogramm für Studierende wird in Aussicht gestellt.
Was sind die roten Linien?
Die britische Regierung legt weiterhin äußersten Wert darauf, möglichst wenig Angriffsfläche für Brexit-Vorkämpfer Nigel Farage und seine Partei Reform UK zu bieten, die in Umfragen inzwischen vor Labour und den Konservativen liegt. Sie betont daher stets, es werde auch keine Rückkehr in den Binnenmarkt oder die Zollunion geben – obwohl das einen großen Schub für die Wirtschaft brächte.
Aufseiten Brüssels gibt es weiterhin die Sorge, Großbritannien könne durch „Rosinenpicken“ Begehrlichkeiten bei anderen Partnern wecken, sich Privilegien zu verschaffen, ohne dafür Verpflichtungen einzugehen. Ohne Beiträge zum EU-Haushalt und Arbeitnehmerfreizügigkeit dürfen sich die Briten kaum Hoffnungen auf weitreichende Erleichterungen beim Marktzugang zur EU machen.
Ein paar heilige Kühe der Brexit-Puristen werden geschlachtet, etwa das Nein zur dynamischen Angleichung an EU-Regeln für Lebensmittelstandards und die Ablehnung des Europäischen Gerichtshofs als Schiedsrichter bei gemeinsamen Vereinbarungen. Das soll den Handel mit Lebensmitteln über den Ärmelkanal und auch zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs wieder erleichtern.
Kommen die Briten zurück in die EU?
Aktuelle Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Briten die Brexit-Entscheidung bereut. Es gibt jedoch wenig Interesse an einem Wiedereintritt in die EU. Unter Starmer hat sich Großbritannien kontinuierlich der EU und vor allem Frankreich und Deutschland wieder angenähert. Dies kommt vor allem auch im Umgang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und mit dem neuen US-Präsidenten Donald Trump zum Ausdruck. In diesem Bereich bemühen sich die Regierungen in London und Paris gemeinsam mit dem neuen Bundeskanzler Friedrich Merz um ein einheitliches Vorgehen, auch zusammen mit Polens Ministerpräsident Donald Tusk.
mit Reuters/dpa