Berlin hat im vergangenen November ein beeindruckendes Fest der Freiheit gefeiert. In Zeiten, in denen liberale Demokratien allenthalben bedroht scheinen und in vielen Ländern autoritäre Regierungen auf dem Vormarsch sind, folgten Dissidenten und Freiheitskämpfer aus aller Welt der Einladung unserer Stadt zu den Feierlichkeiten zum 35. Jahrestag des Mauerfalls.

Ob Swetlana Tichanowskaja, die belarussische Oppositionelle, die iranische Frauenrechtlerin Masih Alinejad oder der im Exil lebende venezolanische Regimekritiker Leopoldo Lopez: alle machten in ihren Reden deutlich, wie sehr die deutsche Hauptstadt für sie ein Symbol der Freiheit ist.

Stephan Schwarz (SPD, zuvor parteilos) war von Dezember 2021 bis April 2023 Berliner Senator für Wirtschaft, Energie und Betriebe.

Diese Sicht auf unsere Stadt scheint von außen viel selbstverständlicher als für uns Berliner. Denn international steht Berlin nach den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts heute für Freiheitswillen und den Kampf für Demokratie. Ernst Reuters berühmte Rede vor dem Reichstag, der Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 in Ost-Berlin, John F. Kennedys Worte vor dem Schöneberger Rathaus, schließlich 1989 der Fall der Mauer und das Ende der kommunistischen Diktatur waren weltgeschichtliche Wegmarken im Kampf für Freiheit und Demokratie.

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Berlin konnte in den achtzig Jahren nach dem Ende des Krieges und der Befreiung von der Nazidiktatur für sich den Markenkern der Freiheit in Anspruch nehmen. Eine heutige Vision der Stadt muss – um belastbar zu sein – unweigerlich in ihrer Geschichte wurzeln. Und Freiheit ist genau diese historische Identität Berlins.

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Selbstbewusste Hauptstadt

Die Freiheit in Europa ist heute in Bedrängnis: Von Westen her schickt sich eine Clique von Tech-Oligarchen mit imperialen Fantasien und ungeheurer wirtschaftlicher Macht an, unsere liberalen Demokratien zu destabilisieren. Im Osten führt Putin einen brutalen Krieg direkt gegen unsere Freiheit. Und im Innern unserer Gesellschaften erodiert der demokratische Konsens.

Das erfordert selbstbewusste Antworten in Europa. Berlin als politisches Zentrum der größten Demokratie Europas und als „Stadt der Freiheit“ muss hier eine besondere Rolle einnehmen: als selbstbewusste Hauptstadt eines verantwortungsbereiten Landes in einem freien und demokratischen Europa.

Fluchtpunkt für Talente

Unsere Werte werden wir nur dann verteidigen können, wenn wir auch wirtschaftlich stark sind. Wenn es Berlin gelingt, den Markenkern der Freiheit weiter zu stärken, wird das ein wesentlicher Faktor für seine internationale Anziehungskraft sein und damit auch zu einer kraftvollen wirtschaftlichen Entwicklung beitragen.

Denn immer mehr wird das Gewinnen von Talenten zur Schlüsselfrage im internationalen Wettbewerb. Als „Stadt der Freiheit“ ist Berlin von jeher Fluchtpunkt politisch Verfolgter. Früher waren es Dissidenten aus den Staaten hinter dem Eisernen Vorhang, heute aus Ländern wie China, Iran oder Syrien. Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat der Startup-Metropole Berlin nicht nur hervorragende ukrainische IT -Entwickler gebracht, sondern infolge der enormen Repression auch zahllose russische und belarussische.

Angesichts der Veränderung des politischen Klimas in vielen Teilen der Welt ist eine Stadt, die für Freiheit steht, nicht nur für politisch direkt Verfolgte attraktiv. Wird das neue anti-liberale und anti-woke Klima in den USA nicht auch dort das eine oder andere Talent überlegen lassen, das Land zu verlassen? Was ist mit Argentinien, wo der exzentrische Präsident gerade einen regelrechten Kulturkampf gegen die Universitäten führt? Oder Italien, Ungarn und so weiter. Die Liste der Länder populistischer und demokratiefeindlicher Regierungen wird immer länger.

Serie „Berlin 2030“

In unserer Serie „Berlin 2030“ wollen wir konstruktive Lösungen für die Herausforderungen der Hauptstadt finden und dabei helfen, positiv in die Zukunft zu schauen. Dafür sprechen wir mit Vordenkerinnen und Visionären, mit Wirtschaftsvertretern, mit Kulturschaffenden, mit Stadtplanern, mit Wissenschaftlerinnen und Politikern.

In Gastbeiträgen fragen wir sie nach ihrer Vision für Berlin. Wie soll Berlin im Jahr 2030 aussehen? Welche Ideen haben sie für die Zukunft unserer Stadt? Und welche Weichen müssen dafür jetzt gestellt werden?

Die Beiträge der Serie stammen unter anderem von Kai Wegner, Renate Künast, Sigrid Nikutta, Ulrike Demmer, Tim Raue, Mo Asumang und Christian Schertz. Alle bisher erschienen Beiträge finden Sie hier.

Am 28. April ab 19.30 Uhr stellen wir die Vorschläge aus der Serie in einer Veranstaltung mit Podiumsdiskussion im Deutschen Theater vor. Tickets gibt es unter veranstaltungen.tagesspiegel.de.

Sie haben auch eine Idee? Schicken Sie uns Ihre Vorschläge an: checkpoint@tagesspiegel.de.

Die besten Köpfe aus Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur

Berlins wirtschaftliche Zukunft liegt in wissensbasierten Branchen, deren Wettbewerbsfähigkeit maßgeblich von der Rekrutierung von Talenten abhängt. Im Bereich der Gesundheitswirtschaft und Biotechnologie ist in der Hauptstadtregion mittlerweile ein riesiges regionales Cluster mit über 400.000 überwiegend hoch qualifizierten Beschäftigten entstanden.

Bayer und die Charité planen ein Gen- und Zelltherapiezentrum als Inkubator für Wissenschaftler und Entrepreneure aus der ganzen Welt. Diese Technologie revolutioniert gerade die Behandlungsmöglichkeiten bisher als unheilbar geltender Krankheiten. Auch die Berliner Digitalwirtschaft mit ihren dynamischen Start-ups ist den Kinderschuhen entwachsen und gilt mittlerweile als eines der führenden Ökosysteme in Europa. Als Fintech-Hauptstadt hat Berlin Frankfurt längst überholt. Die Berliner Industrie – zu besichtigen zum Beispiel in Adlershof – ist digital und auf ihrem Transformationspfad weiter fortgeschritten als die klassischen Industrieregionen im Süden und Westen Deutschlands. Dasselbe gilt übrigens auch für die hier angesiedelten Hightech-Handwerksbetriebe.

Um all das weiterzuentwickeln, muss Berlin attraktiv bleiben für die besten Köpfe nicht nur aus der Wirtschaft, sondern gleichermaßen aus Wissenschaft und Kultur. Gerade das Zusammenspiel dieser drei Sphären schafft idealerweise ein kreatives und innovatives Reizklima, aus dem immer wieder Neues entstehen kann.

Fundament statt Slogans

Um diese klugen Köpfe zu erreichen, wird es allerdings nicht genügen, den Geist der Freiheit mit allerlei Slogans zu beschwören, so wie es die Stadtvermarkter in den vergangenen Jahren mit ihren durchaus ansprechenden Kampagnen immer wieder getan haben. Auch das Fundament muss stimmen. In diesem Zusammenhang „funktionierende Basics“ anzuführen, wie Kai Wegner es getan hat, ist vollkommen richtig. Allerdings nicht als Vision an sich, sondern als notwendige Bedingung für eine solche. Auch hier muss der Benchmark international sein.

Funktionieren heißt: Eine digitale Infrastruktur für Bürger, Unternehmen und Behörden, die den Wettbewerb mit den fortschrittlichsten Regionen der Welt aufnehmen kann. Ausreichendes Wohnungsangebot für internationale Talente und solche, die es noch werden (Studenten und Azubis). Exzellente Kinderbetreuungsangebote und leistungsfähige Schulen. Nur um hier einige der grundlegenden Themen zu nennen; sie sind ja alle hinlänglich bekannt.

Über die „Basics“ hinaus muss Berlin aber auch bereit sein, seine spezifischen Zukunftsfelder zu stärken und in diese entsprechend zu investieren. Dass Berlin von allen Bundesländern die höchsten Pro-Kopf-Ausgaben im Kulturbereich hat, ist wesentlich für die Standortattraktivität und muss auch in Zukunft Anspruch bleiben. Eine schlecht vorbereitete und deshalb verunglückte Kommunikation über den Kulturetat war kontraproduktiv für Berlins Image und darf sich nicht wiederholen.

Dasselbe gilt für Wissenschaft und Forschung. Die starke Berliner universitäre und außeruniversitäre Wissenschaftslandschaft zieht nicht nur Studierende und Wissenschaftler aus der ganzen Welt an, sondern insbesondere auch Unternehmen und Fachkräfte in wissensbasierten Zukunftsbranchen.

Großes ist möglich

Verbunden mit dem Lebensgefühl einer Stadt, die stolz und selbstbewusst für Freiheit, Demokratie und Toleranz steht und deshalb Talente aus aller Welt anzieht, werden hier in Berlin viele Dinge möglich sein. Gerade in Zeiten gewaltiger technologischer Umbrüche, zum Beispiel in der Quantentechnologie, der Künstlicher Intelligenz, der Gen- und Zelltherapie werden wir mit europäischen Partnern Antworten gegenüber den hegemonialen technologischen Ambitionen Chinas und der USA finden müssen.

Einige werden sagen: Wir werden den Wettlauf nicht mehr gewinnen können. Aber wer hätte vor dem Auftauchen von ChatGPT geglaubt, dass Google als Suchmaschine – schon wegen seiner schieren Größe und Marktmacht – jemals herausgefordert werden könnte? Und dass wiederum ChatGPT mit deepseek nunmehr Konkurrenz von einem chinesischen Start-up bekommen würde?

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Wenn es gelingt, die richtigen Talente zusammenzubringen, dann sind auch bahnbrechende disruptive Innovationen möglich. Warum also nicht eine demokratische Alternative zu Musks Plattform X aus Berlins digitalem Ökosystem? Oder ein AI-Tool, das leistungsstark ist, aber demokratisch und ethisch reguliert? Digitale Plattformen aus der deutschen Hauptstadt, die den Nutzern ihre Daten nicht stehlen, sondern ihnen ihre volle digitale Souveränität zurückgeben? Warum nicht eine an der Charité entwickelte Therapie gegen Alzheimer und Parkinson, die großen Geißeln einer alternden Gesellschaft? Ich bin mir sicher: In einer freien Stadt mit den besten Köpfen aus der ganzen Welt wird Großes möglich sein.