Das Vereinigte Königreich und die Europäische Union wollen angesichts der weltpolitisch unsicheren Lage eng zusammenarbeiten und dabei über den Rahmen hinausgehen, der in den Brexit-Verträgen festgelegt ist. Sie versprechen sich davon wirtschaftliche und politische Vorteile für beide Seiten. In der Sache verkündete der britische Premierminister Keir Starmer (Labour) nach dem ersten UK-EU-Gipfeltreffen seit dem Brexit diese Botschaft genauso wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Antonio Costa, Präsident des Europäischen Rates, auch wenn sich Starmer dabei zurückhaltender gab. Von der Leyen sprach von einem historischen neuen Kapitel in den bilateralen Beziehungen und sagte: „Dies ist ein neuer Anfang für alte Freunde.“

SPS-Abkommen soll viele Warenkontrollen überflüssig machen

In London wurde am Montag eine politische Vereinbarung darüber unterzeichnet, in welchen Bereichen künftig enger zusammengearbeitet werden soll. Konkret muss noch einiges ausgehandelt und ausbuchstabiert werden, etwa ein angestrebtes Abkommen über die gegenseitige Anerkennung sanitärer und phytosanitärer Standards (SPS). Dieses könnte den Handel mit Lebensmitteln, Agrarprodukten und lebenden Tieren deutlich erleichtern und viele Grenzkontrollen überflüssig machen, auch im Warenverkehr zwischen Nordirland und dem restlichen Vereinigten Königreich (England, Schottland und Wales). Grundsätzlich ist London bereit, EU-Standards im Bereich SPS zu übernehmen und auch „dynamisch“ an neue Vorgaben anzupassen sowie den Europäischen Gerichtshof als letzte Schiedsinstanz bei der Auslegung von EU-Vorschriften anzuerkennen. Begrenzte Ausnahmemöglichkeiten sagt die EU dem UK dabei zu, außerdem will sie die Briten frühzeitig einbeziehen, wenn neue EU-Vorschriften ausgehandelt werden.

Starmer sprach davon, dass eine dauerhafte gemeinsame SPS-Zone eingerichtet werden solle. Dadurch lasse sich enorm viel Bürokratie bei der Dokumentation und Kontrolle der jeweiligen Standards vermeiden. Das werde zu niedrigeren Lebensmittelpreisen und einer größeren Auswahl an Produkten in britischen Supermärkten beitragen.

Fischereivereinbarung soll bis 2038 gelten

Der Premierminister hob besonders hervor, dass Unternehmen aus UK künftig auch Fisch, Fischprodukte und Meeresfrüchte in der EU verkaufen könnten. Für Meeresfrüchte sei ihnen der EU-Markt derzeit verschlossen. Die neuen Möglichkeiten eröffnen sich auch deshalb, weil beide Seiten beim heiklen Thema Fischerei vereinbarten, sich gegenseitig bis zum 30. Juni 2038 freien Zugang zu ihren Gewässern zu geben. Die aktuelle Regelung aus dem Handels- und Kooperationsabkommen läuft am 30. Juni 2026 aus. Starmer betonte, die EU-Flotten dürften künftig nicht mehr Fische in britischen Gewässern fangen als bisher.

Kooperation bei Strom, CO₂-Handel und Stahl angestrebt

Ähnliche Aussagen wie zum geplanten SPS-Abkommen enthält die Londoner Gipfelerklärung zu den Themen Strommarkt und CO₂-Emissionshandel. Es soll geprüft werden, ob das UK am EU-Strommarkt teilnehmen kann, beziehungsweise ob CO₂-Zertifikate gegenseitig anerkannt werden und beide Seiten auf CO₂-Grenzausgleichsabgaben für Industrieprodukte verzichten können. Beides erfordert laut EU-Kommission, dass die Briten EU-Vorschriften „dynamisch“ übernehmen. Britische Journalisten fragten Starmer in der Pressekonferenz hauptsächlich danach, ob er durch eine solche Anpassung an EU-Recht nicht fürchtet, den Zorn der Brexit-Befürworter auf sich zu ziehen. Starmer wies auf die erwarteten wirtschaftlichen Vorteile für britische Verbraucher und Unternehmen hin. Zum Beispiel solle es EU-Einfuhrquoten für britische Stahlprodukte geben. Das UK bekomme einen besseren Zugang zum EU-Binnenmarkt „als jedes andere Land außerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums“.

Kritik von Brexit-Hardlinern zu erwarten

Kritik von Brexit-Hardlinern ist auch an der Vereinbarung zu erwarten, eine Beteiligung des UK am EU-Bildungs- und Jugendaustauschprogramm Erasmus+ zu prüfen und an einem Abkommen zu arbeiten, das es jungen Menschen erleichtern soll, eine Weile auf der jeweils anderen Seite des Ärmelkanals zu studieren, zu arbeiten oder Freiwilligenarbeit zu leisten. Starmer betonte, auch mit den Vereinbarungen von London werde das Vereinigte Königreich weder die Personenfreizügigkeit für EU-Bürger wieder zulassen, noch in den EU-Binnenmarkt oder die Zollunion zurückkehren.

Briten sollen Zugang zu Rüstungsprogramm bekommen

Enger zusammenarbeiten wollen beide Seiten schon bald bei Verteidigung und Sicherheit. Die EU will den Briten Zugang zu ihrem Programm SAFE gewähren. In dessen Rahmen will die EU 150 Milliarden Euro an den Kapitalmärkten mobilisieren, die die Mitgliedsstaaten in Rüstung investieren sollen. Von der Leyen sagte, in „hoffentlich wenigen Wochen“ könnten die Grundlagen dafür gelegt werden, dass sich auch die britische Rüstungsindustrie an SAFE-Ausschreibungen beteiligen kann. Mehr Kooperation wird zudem bei militärischer Mobilität, bei Cybersicherheit, dem Schutz kritischer Infrastruktur und der Sicherheit im Seeverkehr angestrebt.

Die EU und das Vereinigte Königreich trügen gemeinsam Verantwortung für die Sicherheit in Europa, erklärte EU-Ratspräsident Costa. „Wir sind Nachbarn, Verbündete, Partner und wir sind Freunde“, sagte er. Der Gipfel von London sei nur „der erste von vielen“ gewesen. Von nun an solle es jedes Jahr ein solches Treffen geben.