700.000 junge Menschen, hauptsächlich gut ausgebildete, haben in den zurückliegenden 13 Jahren Italien verlassen. Deutschland ist eines ihrer bevorzugten Ziele. Die Auswanderungsgründe von heute ähneln denen vor einem Jahrhundert erstaunlich.
„Ich war 19 als ich nach Deutschland kam, um Soziologie zu studieren“, erzählt Irina Scelsi ntv.de. „Ich fand das Studium in Italien zu sehr auf angelerntes Wissen fokussiert und zu wenig auf Austausch, Vergleich und neue Ansätze. Das mag für gewisse Fakultäten richtig sein, aber nicht für alle.“
Ihr Vater hatte ihr von der tatsächlich möglichen Gesellschaftskritik und der Frankfurter Schule erzählt. Auch das beeinflusste ihre Wahl. Inzwischen lebt sie seit Jahren in Frankfurt/Main und sie ist bei Weitem nicht die Einzige, die in Deutschland eine neue Heimat gefunden hat.
Einmal in Deutschland, für immer in Deutschland
Irina denkt nicht im Traum daran, zurück nach Italien zu gehen. Nicht nur wegen des Studiums, auch beruflich hat sich ihr Entschluss als gut und richtig erwiesen. „Heute arbeite ich als Kunstpädagogin in einem Jugendzentrum in Frankfurt“, erzählt sie weiter. Die Arbeit macht ihr Freude und sie kann davon leben – eine Tatsache, die sie besonders hervorhebt.
Hätte sie sich denn in Italien nichts in dieser Richtung aufbauen können? „Ich habe Freunde in Mailand, die mehr oder weniger denselben Beruf wie ich ausüben“, sagt sie. „Verdienen tun sie aber die Hälfte. Wobei man ja nicht behaupten kann, das Leben in Mailand sei halb so teuer wie hier. Im Gegenteil.“
Irinas Geschichte könnte man hundert- und tausendfach erzählen: Laut dem italienischem Statistikamt ISTAT sind von 2011 bis 2024 knapp 700.000 Italienerinnen und Italiener im Alter zwischen 18 und 34 Jahren ausgewandert. Allein 2024 waren es 191.000, 20 Prozent mehr als im Vorjahr. Mittlerweile sind es in dieser Altersgruppe fast so viele Frauen (44.159) wie Männer (49.251), die auswandern.
Bildungsinvestition ohne Dividenden
Das verwundert bei dem durchschnittlichen Gehalt in Italien nicht: Laut Erhebungen von Eures und Eurostat liegen die Gehälter in der italienischen Privatwirtschaft für Arbeitnehmende unter 35 Jahren bei durchschnittlich 15.616 Euro im Jahr. 40 Prozent der unter 35-Jährigen haben außerdem nur einen befristeten Arbeitsvertrag, während die Jugendarbeitslosigkeit durchschnittlich bei 21,3 Prozent liegt. In Europa sind es 14,1 Prozent.
Auswandern ist primär für die gut Ausgebildeten – meist mit Hochschulabschluss – attraktiv. Das stellt für Italien nicht nur eine Hypothek auf die Zukunft des Landes dar, sondern auch einen Investitionsverlust. Für jeden dieser Auswanderer hat der Staat 108.000 Euro in die Ausbildung gesteckt. Insgesamt investiert Italien vier Prozent des BiP in Bildung, bekommt aber wenig zurück, wenn man bedenkt, dass 48 Prozent jener mit Hochschulabschluss das Land verlassen (2019 waren es 36 Prozent).
Was die Wahl der Einwanderungsländer der jungen Italiener betrifft, steht Deutschland mit 12,8 Prozent an erster Stelle. Es folgt Spanien mit 12,1 Prozent und dann Großbritannien mit 11,9 Prozent.
Italienische Akademiker auf Platz 2
Laut dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) waren im Wintersemester 2023/24 insgesamt 10.154 italienische Studierende an deutschen Hochschulen eingeschrieben. 2022 arbeiteten 4439 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit italienischer Staatsangehörigkeit an deutschen Hochschulen – darunter 340 Professorinnen und Professoren.
Den Zahlen nach belegt Italien sowohl beim internationalen wissenschaftlichen Hochschulpersonal als auch bei den ausländischen Professuren in Deutschland den zweiten Platz unter den Herkunftsländern. Genaue Daten zu den ausländischen Studierenden, Akademikern und Akademikerinnen liefert die Studie „Wissenschaft weltoffen“ des DAAD. Die Studienbereiche sind nicht nach Herkunftsland sortiert, den größten Zulauf haben Mathematik und Naturwissenschaften – man kann davon ausgehen, dass es sich auch bei den italienischen Studierenden so verhält.
Für Deutschland ist die Beliebtheit als Studien-, Forschungs- und Arbeitsland natürlich ein Gewinn. Das Land profitiere in mehrfacher Hinsicht von der Präsenz internationaler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, heißt es vom DAAD. Sie trägt zur Innovationsfähigkeit und zur internationalen Sichtbarkeit des deutschen Wissenschaftsstandorts bei.
Außerdem federt es ein wenig den Fachkräftemangel ab – und das auch dank anderer Bewerber aus Italien. Da es aber weder für Unternehmen noch Privatpersonen leicht ist, sich auf einem ausländischen Arbeitsmarkt zu bewegen, gleich ob man sucht oder anbietet, wurde vor zehn Jahren die Berufsbildungsgesellschaft „Dual Concept“ gegründet. Das ist ein eigenständiges Unternehmen, an dem aber die Deutsch-Italienische Handelskammer mit Sitz in Mailand zu 100 Prozent beteiligt ist. „Wie der Name sagt, nimmt auch die duale Berufsausbildung einen wichtigen Platz ein“, erklärt Geschäftsführerin Katrin Helber ntv.de. Bis 2023 lief zudem das Pro Recognition Projekt, das von Deutschland finanziert wurde. „Dabei ging es um die Anerkennung von italienischen Berufs- und Studienabschlüssen in Deutschland“, fährt Helber fort. Gelegentlich gibt es auch Unterstützungsanfragen für Anwerbung von bestimmtem Fachpersonal, etwa Apotheker und Erzieher.
Schon immer versuchten Menschen, in anderen Ländern glücklich zu werden.
(Foto: IMAGO/glasshouseimages)
Angesichts der Auswanderungszahlen stellt sich unweigerlich die Frage: Ist Italien, wie schon Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, wieder zu einem Auswanderungsland geworden? Nimmt man nicht nur die Zahlen, sondern auch die Motivation der Auswandernden unter die Lupe, lautet die Antwort: „Si“!
Natürlich gibt es Unterschiede: Die Auswanderer beziehungsweise Migranten reisen heute nicht mit zugeschnürtem Pappkoffer, sondern mit Laptop und Handy. Damals hatten sie Fleiß und ihre bloßen Hände anzubieten, heute Fleiß und gute Ausbildung. Migrantinnen und Migranten auf der Suche nach einer Zukunft waren sie gestern und sind sie heute.