Vor neun Monaten erstach ein Syrer auf einem Solinger Volksfest drei Menschen. Durch die Tat verschärfte sich die politische Debatte deutlich. Jetzt startet der Prozess gegen den Flüchtling. Und ein Untersuchungsausschuss soll aufklären, warum die vor dem Attentat fällige Abschiebung misslang.
Die Flucht dauerte 42 Stunden. Dann erst wurde jener Mann festgenommen, der im Verdacht steht, am 18. Mai vor einer Bar in Bielefeld fünf Menschen mit einem Messer teils lebensgefährlich verletzt zu haben. Es handelt sich um den 35 Jahre alten Syrer Mahmoud M., der vor zwei Jahren eingereist war. In seinem Rucksack, den er in der Nähe des Tatorts verloren hatte, wurden zwei große Küchenmesser sowie eine Stichwaffe, die an einem Stab fixiert war, gefunden. Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe geht davon aus, dass die Tat religiös motiviert war. Der Mann habe Kontakte ins islamistische Milieu gehabt. Doch das wurde erst festgestellt, als es zu spät war. Vor dem Attentat war Mahmoud M. weder der Polizei noch dem Verfassungsschutz aufgefallen.
In vielen Details erinnert der Fall damit an das Attentat von Solingen vom 23. August 2024. Vor genau einem Dreivierteljahr wurden dort bei einem Stadtfest drei Menschen getötet und zehn weitere verletzt, davon vier lebensgefährlich. Die Tatwaffe: ein Messer. Der mutmaßliche Mörder: Issa al Hasan, ein 26 Jahre alter Syrer, den die deutschen Behörden ebenfalls nicht als Extremisten auf dem Schirm hatten. Unbemerkt schmiedete er Mordpläne. Am kommenden Dienstag, dem 27. Mai, beginnt in einem Hochsicherheitstrakt des Düsseldorfer Oberlandesgerichts der Prozess.
Der Anschlag von Solingen hatte damals die politische Diskussion um Abschiebungen und innere Sicherheit angeheizt. Schon wenige Tage danach sprachen mehrere Abgeordnete des NRW-Landtags von einer „Zäsur“. Die Tat habe „lange bekannte Probleme bei der Registrierung, Unterbringung und beim Umgang mit Asylbewerbern und weitergereisten Flüchtlingen“ offengelegt.
Friedrich Merz, damaliger CDU-Chef und jetziger Bundeskanzler, forderte Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan und wollte keine weiteren Flüchtlinge aus diesen beiden Ländern aufnehmen. Auch von der Bundestagsfraktion der Grünen kam Kritik an der Flüchtlingspolitik des damals von der SPD geführten Bundesinnenministeriums. Die Wehrhaftigkeit des Rechtsstaats sei „sträflich vernachlässigt“ worden. Es war der Beginn einer Debatte, die – auch befeuert durch weitere ähnliche Attentate – den Bundestagswahlkampf prägen sollte.
In Nordrhein-Westfalen steht nach den Morden von Solingen vor allem die Ministerin für Flucht und Integration Josefine Paul (Grüne) unter Druck. Denn eigentlich hätte der Attentäter bereits lange vor der Tat abgeschoben werden müssen – dafür zuständig war das Ministerium von Paul. Warum die Abschiebung scheiterte? Mit dieser Frage befasst sich derzeit ein Untersuchungsausschuss im Düsseldorfer Landtag.
Wie und wann der Attentäter sich radikalisierte – das wird Gegenstand der Verhandlung sein. Nach Informationen des „Spiegel“ haben die Ermittler Hinweise gefunden, dass Al Hasan schon vor seiner Zeit in Deutschland Islamist war. Spätestens ab Dezember 2019 soll er im Internet salafistische und dschihadistische Propaganda konsumiert haben. Damals lebte er noch in Syrien. Über die Kurdengebiete im Norden des Landes soll er sich in die Türkei abgesetzt haben, 2022 wurde er nach Bulgarien geschleust. Dort soll er den Beamten gesagt haben, er habe Syrien aus wirtschaftlichen Gründen verlassen – und aus Angst vor Schergen des Assad-Regimes. An Kämpfen sei er nie beteiligt gewesen. Bald zog er weiter – über die Balkanroute in Richtung Deutschland, wo er im Dezember 2022 ankam.
Al Hasan wurde in einer Notunterkunft in Paderborn untergebracht. Sein Asylantrag: abgelehnt. Begründung: zuständig sei Bulgarien, das EU-Land, in dem er zuerst als Flüchtling registriert worden war. Im Februar 2023 erhielt er den Überstellungsbescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Am 5. Juni 2023 sollte er nachts in seiner Unterkunft abgeholt werden – unangekündigt, um ein Abtauchen zu vermeiden, so argumentiert das NRW-Fluchtministerium. Die Behörden in Sofia hatten bereits einer Übernahme zugestimmt, ein Platz in einem Flugzeug war reserviert. Doch Al Hasan wurde nicht angetroffen. Und damit setzte eine unheilvolle Verkettung von Versäumnissen ein.
Die NRW-Behörden hatten versäumt, ihm die Verpflichtung aufzuerlegen, dass er sich nachts in der zugewiesenen Unterkunft aufzuhalten habe. Die Verwaltung der Flüchtlingsunterkunft hatte versäumt, dem Ministerium zu melden, dass Al Hasan tags darauf wieder auftauchte. Die Folge: Im August 2023 lief die Frist für eine Abschiebung nach Bulgarien ab, der spätere Attentäter erhielt nun in der Bundesrepublik sogenannten subsidiären Schutz.
Wie sich die Verantwortlichen die Schuld zuschieben – das konnte man zuletzt vor zwei Wochen beobachten, als die ehemalige Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) vor dem Düsseldorfer Untersuchungsausschuss aussagte. Sie betonte mehrfach, beim Asylverfahren des Issa al Hasan habe es keine Versäumnisse aufseiten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gegeben. Es sei nicht die Aufgabe der BAMF-Mitarbeiter, eine Sicherheitsrelevanz zu prüfen. Das wiederum empörte die Vertreter der NRW-Regierungsfraktionen. Faeser sei es, die „die politische Verantwortung für zentrale Versäumnisse“ trage, sagte Fabian Schrumpf, stellvertretender Vorsitzende der CDU-Landtagsfraktion.
Jedenfalls wohnte Al Hasan ab September 2023 in Solingen, im alten Finanzamt, das zum Flüchtlingsheim umfunktioniert worden war. Nachts jobbte er als Putzkraft in einem Kebab-Imbiss. Von dort soll er ein Video an Mittelsmänner des IS geschickt haben, in dem er seine Tat ankündigte, anschließend brach er zu jenem Volksfest mit dem Titel „Festival der Vielfalt“ auf.
Elf Betroffene und Hinterbliebene haben sich entschieden, als Nebenkläger am Prozess teilzunehmen. Sie alle seien traumatisiert, sagt einer der Opferanwälte. Viele von ihnen hätten zwar Angst vor einer Begegnung mit dem Täter, sehen wollten sie ihn trotzdem. Man hat ihnen zugesichert, dass er durch eine andere Tür in den Verhandlungssaal geführt und weit entfernt von ihnen sitzen wird. Zwischen Täter und Opfer: eine Scheibe aus bruchsicherem Glas.
afa